Heute morgen bringt mich mein ehemaliger Schwager zum Bahnhof nach Neustadt an der Aisch. Von dort aus fahre ich mit der Westfrankenbahn nach Rothenburg ob der Tauber, um wieder auf den E8 zu gelangen. Nach drei Tagen warmer familiärer Umgebung, muss ich mich erst an das kühle und bewölkte Klima gewöhnen.
In Rothenburg sind heute nicht so viele Touristen wie bei meinem letzten Besuch. Einige Teile der mittelalterlichen Stadt sind sogar touristenfrei. Viele Läden und Cafés im Zentrum der Altstadt öffnen erst ab 10 Uhr oder sogar noch später. Die Cafehausdichte um dem Marktplatz herum finde ich beeindruckend. Fast jedes Haus ist ein Café oder Restaurant. Die Altstadt ist wirklich sehenswert. Es gibt sogar ein mittelalterliches Kriminalmuseum.
Ich verlasse die Stadt ganz angemessen durch eines seiner alten Tore und überquere eine Landstraße, um dann sofort in das Tal der Schandtauber hinunterzusteigen. Schon nach 300 oder 400 Metern höre ich die Stadt und die Straße nicht mehr. Die Schandtauber ist ein idyllischer Bach, der in die Tauber mündet. Es hat inzwischen leicht das Regnen angefangen. Das Grün leuchtet dunkel und frisch zugleich. Ich folge dem Bachlauf aufwärts. Immer wieder erläutern Schilder, welche baulichen Maßnahmen früher unternommen wurden, um dem Bach passierbar bzw. bewirtschaftbar zu machen. Nach neun solcher Stationen geht es aus dem Bachtal hinauf auf den Bergrücken entlang von Mais- und Weizenfeldern. Das feuchte Wetter der letzten Tage hat dem Mais gut getan. Er steht inzwischen mannshoch und leuchtet hellgrün frisch.
Ich fühle mich ausgeruht und frisch und wandere schneller als sonst. So schnell, dass ich sogar eine holländische Familie überhole. Ansonsten begegne ich keiner Menschenseele. Es geht wieder in das Bachtal runter und ich komme an zwei Mühlen vorbei. Kein Netzempfang. Ansonsten muss es sehr schön sein hier zu wohnen. Ich werde an meinem Professor in den Vogesen erinnert, der auch in einem alten Haus mit großem Garten mitten im Wald lebt.
Ich verlasse das Tal der Schandtauber und komme nach Bettenfeld gerade rechtzeitig zur Mittagszeit. In Bettenfeld gibt es ein Gasthaus mit eigener Schlachtung. Es sind überraschend viele Gäste da. Ich bekomme trotzdem noch einen Tisch. Die Essensportion ist riesig und schmeckt richtig gut. Kein Wunder, dass dort so viele Gäste einkehren. Viele sind offenbar regelmässig ein oder zweimal in der Woche zu Gast. Die Preise sind sehr moderat.
Nach dem Mittagessen geht es auf der Landstraße weiter. Die E8 Markierungen hören nach Bettenfeld leider auf und ich richte mich nach dem Jakobswegzeichen. Das Gehen auf der Landstraße macht mich mürbe und müde. Ich komme an einem großen Steinbruch vorbei. Es regnet inzwischen stärker und ich ziehe meine Regenkleidung über. Es wird merklich kühler. Ich merke, dass ich nicht mehr so rund laufe. Vielleicht bin ich den heutigen Tag doch zu flott angegangen. Ich beschließe die nächste Möglichkeit einer Herberge zu nutzen. Ein paar Telefonate und Empfehlungen später, habe ich eine Unterkunft. Allerdings war der Empfang schlecht und ich werde mir immer unsicherer, wie die Adresse wirklich gelautet hat.
Ich biege nach M… rechts von der Landstraße ab auf einen Feldweg und komme wieder durch Wald. Ein junger Wald mit vielen Birken. Es ist richtig dunkel geworden, obwohl es noch Nachmittag ist. Im Wald ist alles dunkel. Das Laub leuchtet schwarzgrün und glänzend. Es riecht gut nach Erde. Keine Insekten fliegen. Ich kann wieder Wild beobachten, dass ohne Scheu mich in nächster Nähe passiert. Eine Ricke mit ihrem Kitz. Zwei Feldhasen. Ein Paar von Buntspechten. Es wirkt alles ein bisschen unwirklich und irreal.
Mir fällt wieder der Begriff Bilderbuchlandschaft ein und ich überlege mir, ob es zu der Bilderbuchlandschaft auch Bilderbuchmenschen gibt. Frei nach dem Motto, dass die Landschaft auch den Charakter oder die Persönlichkeit der dort lebenden Menschen beeinflußt und formt.
Meine Beine werden immer müder und fangen an zu schmerzen. Ich hoffe, dass im nächsten Ort die telefonisch reservierte Ferienwohnung von Frau Schmidt ist. Bei dem Namen des Ortes bin ich mir inzwischen total unsicher, wie er wirklich heißt. Die Vorwahl der Telefonnummer ist keine echte Hilfe, da diese für alle Ortschaften in Hohenlohe anscheinend dieselbe ist.
Ich komme nach Hausen und versuche mich an die Wegbeschreibung zu erinnern. Die Hauptstraße Nummer 21… Ich komme an der zentralen Bushaltestelle vorbei und bleibe stehen, um weitere Indizien zu finden, wo vielleicht die Hauptstraße sein könnte. Irgendwie muss ich dabei ein sehr hilfebedürftiges Gesicht machen.
Denn auf einmal hält ein kleiner Bus neben mir. Der Busfahrer grüßt mich und fragt, ob er mir helfen kann. Ich erläutere ihm meine Situation und meine Suche. Er bietet spontan seine Hilfe an und zeigt auf das Haus, vor dem wir stehen. „Hier wohnt der ehemalige Postbote von Hausen, der kennt jeden!“. Er steigt aus dem Bus und klingelt. Der ehemalige Postbote öffnet die Türe und nennt uns tatsächlich die Adresse einer Frau Schmidt, die eventuell Ferienwohnungen vermietet. Sonst würde es auch keine weiteren Schmidts in Hausen geben.
Der Busfahrer bietet mir sogar an, mich hinzufahren. Supi! Leider stellt es sich heraus, dass diese Familie Schmidt nicht die richtige ist. Auch gibt es noch weitere Schmidts in Hausen, die leider auch nicht die richtigen sind. Einmal finde ich nicht die Türklingel und – optimistisch wie ich nun mal bin – rufe an mit den Worten, dass ich jetzt vor der Türe stehen würde. Leider ist es das falsche Haus und wieder die falsche Familie Schmidt.
Aber ich verstehe diesmal den Namen des Ortsteiles – oder besser gesagt des Dorfes – besser. Ich bin im falschen Dorf! Mein Busfahrer hat inzwischen jemanden auf der Straße angehalten und die Fahrerin gefragt, wie weit es dahin noch zu Fuß sei. Über eine Stunde! Ah! Es regnet und es ist kalt und ich habe heute keine große Lust mehr weit zu laufen.
Der Busfahrer erlöst mich von der Frage, wielange ich heute noch durch den Regen laufen muss. Er fährt mich einfach die ganze Strecke hin. Auf der Fahrt erzählt er mir, dass er seit 30 Jahren die Kindergarten- und Schulkinder der Ortschaften hier einsammelt und zur Schule bzw. Kindergarten fährt. Er kennt sie alle. Er sammelt sogar die Monatsausweise mit Bild der Kinder. Wenn sie dann erwachsen sind und heiraten, schenkt er ihnen die gesammelten Ausweise. Die Beschenkten sind dann immer sehr gerührt. Es ist dann ja wie ein 10 bis 15-jähriges Daumenkino mit den eigenen Passfotos. Im Handumdrehen sind wir in Reubach und diesmal bei der richtigen Familie Schmidt. Ich bedanke mich herzlich bei dem Busfahrer und wir verabschieden uns voneinander mit Handschlag.
Frau Schmidt hat schon auf mich gewartet und kommt sofort aus dem Haus um mir die Ferienwohnung zu zeigen. Diese ist sehr groß. Frau Schmidt kocht mir erst einmal einen heißen Kaffee und erzählt mir dann, dass die Wohnung früher der Edekaladen des Ortes gewesen sei, den sie und ihr Mann geführt hatten. Sie freut sich über jeden Wanderer, den sie hier aufnehmen dürfen und bedauert, dass sie für mich keinen Kuchen gebacken hat. Ich freue mich auch, dass ich so eine tolle Unterkunft habe. Waren am Anfang meiner Wanderung die Gasthöfe oft wegen Corona geschlossen, ist es jetzt anders. Jetzt sind viele Gasthöfe und Ferienwohnungen belegt wegen den Sommerferien und es nicht leicht für mich, etwas zu finden.
Heute mache ich die Erfahrung, dass einem Wanderer in Hohenlohe geholfen wird. Diese Bilderbuchlandschaft hat auch Bilderbuchmenschen.