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Im Bayrischen Wald: Wiesenfelden – Pilgramsberg – Stallwang

Heute morgen ist es bewölkt, aber trocken. Es ist kühl. Einer meiner Lehrer hat uns auf dem Gymnasium beigebracht: „Der Bayrische Wald: Dreiviertel Jahr Winter, Einviertel Jahr kalt“. Bis jetzt stimmt es.

Nach einem Abstecher in die Bäckerei mache ich mich wieder auf den Weg. Der E8 läuft hier nicht nur parallel zum Jakobsweg, sondern auch zum „Goldsteig“. Die Erfinder des Goldsteigs waren schwer aktiv beim Marketing und haben sich einen besonderen Gag ausgedacht und die Rastbänke in Form und Farbe des Wanderweglogos gestaltet.

Goldsteig

Es geht zuerst bergauf und schon nach einer Viertelstunde habe ich den ersten Aussichtspunkt seit langem erreicht. Die Luft ist herrlich klar und frisch und das Laufen geht wie von selbst. Bald bin ich mitten im Wald und es ist bereits so hoch, dass die Wolken wie Nebel wirken und alles geheimnisvoll und dunkel machen.

In Wiesenfelden hatte ich ein Plakat gesehen, dass zum Waldbaden einlädt. Ich fange an zu überlegen, wie und wann das vonstatten gehen soll. Im Sommer? Wenn die ganzen Mücken unterwegs sind? Ist man dann nackt oder hat minimum eine Badehose an? Verläuft das eher ruhig oder ist es wie Kinderplantschen mit viel Geschrei? Die Japaner versprechen sich eine Menge gesundheitlicher Vorteile. Ich dagegen fange an, misstrauisch zu werden. Am Ende des Tages hat man viele Mücken gefüttert und dann?

Heute sind keine Mücken unterwegs, nur ein paar Schwammerlsuchern begegne ich. Die Wegorientierung ist manchmal verwirrend, aber irgendwie schaffe ich es heute, mich nicht größer zu verlaufen.

Vor einer Woche hatte ich ein Gespräch mit einer Bekannten, die kürzlich ihren Bootsführerschein Klasse C gemacht hat. Für sie ist Wandern uninteressant. Sie reduzierte das Wandern auf das Statement: „und dann siehst du schon ein, zwei Kilometer im voraus, wohin du läufst und es dauert ewig bis du dann dort ankommst.“ Jetzt habe ich Zeit darüber nachzudenken. Diese Reduktion finde ich irritierend, vor allen Dingen weil es von jemanden kommt, der gerne Boot fährt. Beim Bootsfahren auf dem offenen Meer beispielsweise hat man oft überhaupt keinen Orientierungspunkt ausser der Sonne. Überall Wasser. Und trotzdem kam diese Reduktion. Ich vermute, hinter diesem Satz steckt mehr. Vielleicht die Anstrengung des Wanderns und das Bewusstsein, das es 15 bis 30 Minuten dauern kann bis man den entfernt liegenden Orientierungspunkt erreicht hat. Vielleicht die Erfahrungsgewohnheit des Autofahrens, die uns suggeriert, dass man diesen Punkt in ein, zwei Minuten erreicht hat und dann kommt was Neues. Vielleicht die Ungeduld, es nicht schneller dorthin zu schaffen. Oder vielleicht noch etwas ganz anderes.

Ich kenne das Gefühl, auf einen Punkt zuzuwandern. Schlimmer finde ich es einen langen, geraden Weg auf der Ebene zu gehen. Ein Weg, der den ganzen Tag und länger dauert. Das mag ich auch nicht. Das ist der Grund, warum ich die ungarische Puzta vermeiden möchte. Das stelle ich mir auch nur anstrengend, mühselig und langweilig vor. Das ist der Inbegriff des „Kilometer machen“ für mich oder „den Forrest Gump machen“. Einfach nur stumpf, ohne nach Links oder Rechts zu schauen, zu laufen.

In Mitteleuropa, insbesondere auf den Wegen, die ich bisher gewandert habe, erlebe ich es als anders. Die gefühlte Anstrengung ist letztendlich eine Geduldsübung, da ich mein Tempo und die Pausen selber bestimme. Wenn es für mich zu anstrengend wird, werde ich langsamer. Wenn es noch anstrengender wird, mache ich eine Rast. Dann geht es auch wieder.

Die Sehgewohnheit des Autofahrers verändert sich beim Wandern, da man auf einmal Dinge in der Natur sieht, die man als Autofahrer oder Radfahrer einfach übersieht, weil man zu schnell ist. Es ist dann nicht mehr die Fixierung auf einen Punkt, der ein oder zwei Kilometer vor einem liegt, sondern die Entdeckung, was liegt am Wegesrand. Außerdem hat ich es bisher nicht oft, soweit voraus meinen Weg sehen zu können. Die Blickweite ist normalerweise – insbesondere im Wald – wesentlich kürzer. Manchmal sogar nur ein paar Meter weit.

Ansonsten Wandern entschleunigt mich ungemein und das ist gut so. Es gibt keinen Zwang schnell oder weit zu laufen. Erst am Nachmittag, wenn ich abschätzen kann, wieviel Lust ich noch habe, entscheide ich mich für einen Punkt auf dem Weg, um dort eine Unterkunft zu finden. Ansonsten fühle ich mich frei von irgendwelcher Ungeduld.

Gegen Mittag verlasse ich den Wald und komme an einzelnen Gehöften mit umliegenden Weiden vorbei. Eine große Wiese gefällt mir besonders. Es gibt eine Goldsteigparkbank, eine schöne Aussicht und eine große Herde Schafe.

Bei Pilgramsberg gehe ich vom Weg runter, um einen Gasthof zu finden. In Pilgramsberg gibt es eine große Fabrik für Heiztechnik, Klima, usw., viele Wohnhäuser, eine Tankstelle, aber keinen offenen Gasthof. Der Hubertushof erregt meine Neugierde: ein Hotel mit großer Terrasse und Parkplatz, auf dem auch ein paar Autos stehen. Aber alles sieht verlassen und wüst aus. Des Rätsels Lösung, es ist ein Hotel für Selbstversorger. Auf der Terrasse mache ich eine Rast und bei den ersten Sonnenstrahlen des Tages ein kleines Nickerchen.

Danach geht es weiter. Im Wechsel Wiesen, Wald und einzelne Bauernhöfe. Überall stehen Obstbäume am Weg. Die Zwetschgen sind reif und schmecken frisch vom Baum richtig toll. Ich muss aufpassen, dass ich nicht zuviele davon esse.

Am Ende des Nachmittags erreiche ich Stallwang und bekomme ein Zimmer in einem wandererfreundlichen Gasthof. Der Gasthof wird von einem Oberpfälzer, einem Tschechen und dessen Freundin betrieben. Ich bin der einzige Gast und komme mit dem Tschechen ins Gespräch. Sie haben bisher die Coronazeit überstanden, weil die Bürger fleissig bei ihnen Essen bestellt haben. Seine Freundin ist 24 Jahre jünger als er. Anfangs dachte ich, sie wäre seine Tochter, welch ein Irrtum! Seit einem Jahr sind die beiden ein Paar. Eine menschliche Tragödie hat sie zusammengebracht. Sie sind ein schönes Paar.