Archive : Spessart

Am Main entlang: Collenberg – Dorfprozelten – Faulbach

Heute morgen regnet es. Ich werde bereits um 6:45 Uhr geweckt und bekomme das Frühstück auf das Zimmer gebracht. Toller Service, nur ein bisschen früh. Abgemacht war 7 Uhr gewesen. 

Ich breche nach dem Frühstück bei leichtem Nieselregen auf. Eine Wohltat nach der schwülen Wärme von gestern. Am Anfang wandere ich am Main entlang. Es ist wunderbar. Die Luft ist frisch, der Main liegt ganz ruhig, fast bewegungslos, neben mir. Viele Wasservögel sind unterwegs und kein bisschen scheu. Ich bin wie verzaubert und kann mich vom Main kaum losreißen. Aber nach ein paar Kilometern geht es wieder in den Wald. Im Wald ist es auch frisch und kühl und überall naß. 

Ich komme an der Ruine Collenburg vorbei. Hier mache ich meine erste Rast. Ich ziehe meine inzwischen nassgeschwitzten Oberteile aus und lasse sie ein bisschen ausdampfen. Der Regen hat zwischenzeitlich nachgelassen. Von hier oben habe ich einen guten Ausblick auf den Main und seine Ufer.

Es geht weiter durch den Wald. Mittags bin ich in Dorfprozelten. Zum ersten Mal klappt mein Timing: ich bin zur Mittagszeit in einer Ortschaft, ich habe Appetit und es gibt eine Wirtschaft, die geöffnet hat. Fränkische Küche. Ich liebe die Klöße mit Soße. 

Ich frage die Wirtin, ob sie eine Übernachtungsmöglichkeit in meinen Tageszielort wüsste. Sie verneint und behauptet, dort und in den weiteren Ortschaften würde es nichts mehr geben.  Auf Kuba hatte ich so eine Reaktion auf meine Anfrage anders erlebt. Ich war einmal mit meinen Kindern auf Kuba, mit einem Mietauto, alles selbst organisiert. Dort ist es wie folgt abgelaufen. Sobald wir ein Quartier (eine Casa Particulares) hatten, wurden wir von den Herbergswirten immer weiterempfohlen. Jedes Mal haben sie sogar vorher im Zielort angerufen, um sicher zu stellen, dass es auch freie Zimmer gibt. Es gibt in Kuba ein informelles Netzwerk der privaten Herbergswirte. Es hatte immer geklappt. Hier in Mainfranken ist das anders: Das Internet zeigt nichts an und das fränkische Herbergswirte-Netzwerk  existiert nicht. 

Es regnet wieder und ich laufe weiter. Es geht in den Spessart durch den Wald über Streuobstwiesen und an Bauernhöfen vorbei. Es ist alles sehr abwechslungsreich. Ich folge dem Fränkischen Marienweg, an dem immer wieder Marienstatuen oder sogar Altäre stehen. Ich wurde immer wieder in den letzten Tagen gefragt, ob ich auf einem Pilgerweg sei. Das interessiert die Leute sehr und sie teilen mit mir dann den Wunsch, einmal im Leben den Jakobsweg zu gehen oder sie haben diesen teilweise schon begangen. Vielleicht hat das auch mit der Frage nach „spirituell“ oder „kontemplativ“ zu tun. Ich werde nachdenklich. Ich fühle mich aktuell eher wie ein deutscher Romantiker. Die haben im 19. Jahrhundert den Zauber und die Magie der Natur für sich entdeckt und sind gerne raus und wandern gegangen. Die deutschen Romantiker sind inzwischen ausgestorben, wahrscheinlich war Heinrich Heine der letzte und der hat sich gerne über die anderen Romantiker lustig gemacht. Ich fühle mich heute wie ein deutscher Romantiker: Der stimmungsvolle Morgen im Nieselregen am Main. Die Begegnungen mit wilden Tieren. Das Alleinsein im Wald und auf dem Fernwanderweg. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das ich schon irgendwie ein Quartier und was zu Essen und Trinken finden werde. Meine Tante würde sagen, das Universum sorgt schon für dich, du musst dich nicht selber sorgen. Mein Heine sind die Kriebelmücken, Brombeerranken und Brennnesseln, die sich über mich lustig machen.

Ich komme an der Ruine Henneburg vorbei. Die Ruine ist teilweise eingerüstet und die alte Burg wird wieder hergestellt. Es soll die größte Burgruine in Bayern sein. Von da oben gibt es das schönste Panorama des heutigen Tages. Es geht weiter nach Faulbach auf einem Höhenweg entlang des Mains. Sehr schöner weicher Boden. Das ist für die Füße echtes Genusswandern. Heute hatte ich auch schon Pfade gehabt, wo ich mir eine Machete gewünscht habe, um die Brombeerranken und Brennnesseln aus dem Weg zu schlagen. Die haben die letzen Tage tüchtig in ihr Wachstum investiert. Es kann schon lange keiner mehr den E8 gelaufen sein.

In Faulbach angekommen, setze ich mich an das Mainufer und bewundere ein Lastschiff, das gerade die Schleuse passiert. Ich versuche ein Quartier zu finden. Wie schon im letzten Ort angekündigt, nicht ganz einfach. Ferienwohnungen werden nur an mehrtägige Gäste vermietet und nicht an One-Night-Stand-Hiker. Ich versuche es im nahegelegenen Café. Der Wirt ist hilfreich, kennt aber nur Herbergen in weiter entfernten Ortschaften. Er ist in Erzähllaune und berichtet mir von einem Wanderer, der letzte Woche bei ihm einen Cappuccino getrunken hat und nach Wien wandern wollte. Ich bin elektrisiert. Ich bin tatsächlich nicht der einzige auf dem E8! Und der 78-jährige Mann hat nur 6 Tage Vorsprung, da könnte ich ihn vielleicht vor Wien noch einholen. Der Wirt erzählt weiter, von einer Schiffersekte. Die Mitglieder dieser Sekte arbeiten auf den Lastschiffen und müssen einmal in ihrem Leben von der holländischen Grenze zu Fuß entweder bis nach Rom oder Wien wandern. Auch die kehren gerne bei ihm ein, meistens im September oder Oktober, meistens Holländer, aber auch Deutsche. 

Ich verabschiede mich und versuche mein Glück in einer Ortschaft zwei Kilometer von Faulbach entfernt. Dabei muss ich an das Gespräch mit dem Wirt denken und eine Idee fängt an, in mir zu entstehen. Was wäre, wenn ich tatsächlich das Schwarze Meer erreichen sollte. Bisher habe ich mir keine Gedanken gemacht, wie ich dann wieder nach hause komme. Aber jetzt…. Falls ich wirklich das Schwarze Meer erreichen sollte, dann könnte ich doch auf einem der Lastkähne anheuern oder eine Passage buchen. Und dann mit dem Schiff vom Ufer des Schwarzen Meeres die Donau hoch, über den Main-Donau-Kanal auf den Main, Mainabwärts an Frankfurt vorbei zum Rhein, in Bingen schließlich an Land gehen und dann das Nahetal hochwanden bis Bad Kreuznach. Das wäre dann nur noch ein Klacks. Die Idee fängt an mir zu gefallen.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Ich sehe 4 Milane am Himmel. Wahrscheinlich 2 Altvögel und ihre Jungvögel. Die Eltern zeigen ihren Jungen, wie sie elegant die Thermik nutzen können. Es sieht super aus. Einen kurzen Moment später fällt mir ein Schwarm Rabenkrähen auf. Alle haben einen gegabelten Schwanz. Diese Art kenne ich noch nicht. Ob meine Onkel aus Nordhessen wissen, um welche Art es sich handelt?

Ich erreiche den Ort Breitenbrunn und einen Gasthof, der gerade öffnet. Es gibt ein Zimmer für mich. Kein W-Lan, kein Fernseher, kein Besuch, kein anderer Gast. Fast komme ich mir vor wie bei meinem letzten Klinikaufenthalt. Aber es gibt etwas Gutes zu essen, es ist günstig und ich komme in den Genuss der reduzierten Mehrwertsteuer. Meine angefachte Konsumfreude lässt mich die gesparte Mehrwertsteuer in das Trinkgeld investieren.

Zwischen Main und Spessart: Obernburg – Klingenfels – Großheubach

Es hat sich ein Sponsor für meine Wanderung gemeldet und mir bereits eine ordentliche Summe überwiesen. Hurra! Ich freue mich riesig und danke dem edlen Spender herzlich!

Heute morgen bin ich in der Römerstraße in Obernburg gestartet, dann an der Kirche St. Peter und Paul vorbei. Der mittelalteriliche Kirchturm ist gut erhalten, aber das Kirchenschiff ist aus der Mitte des letzen Jahrhunderts und hat ein 12-giebliges Dach mit großen bunten Fenstern, ein gepflasterter Weg führt in dieses Gebäude. Die Architektur finde ich sehr angenehm und erinnert mich an die Werke der Familie Böhm aus Köln und Neviges. Bei dem Namen der Kirche fällt mir immer wieder ein, dass mein Vater katholisch getauft, aber evangelisch konfirmiert wurde.

Von dort aus geht es auf eine Brücke über den Main. Es ist frisch und bewölkt. Das ist mir inzwischen das liebste Wanderwetter. Zuerst geht es durch einen Ort bis zum Beginn des Spessarts und von da ab durch den Wald. Fand ich die Beschilderung für den E8 im Odenwald schon gut, finde ich die in Mainfranken noch besser. An fast jeder Weggabelung finde ich das Zeichen. So komme ich gut voran. In Bayern sind auch viel mehr Wanderer unterwegs: alleine, in Paaren oder in Wandergruppen. Die meisten begegnen mir freundlich und interessiert und es kommt zu kurzen Begegnungen. So viele Wanderer habe ich in den letzten 12 Tagen insgesamt nicht gesehen.

Eine Begegnung möchte ich teilen: ein 82-jähriger Mann kommt mir entgegen. Mir fällt auf, dass er einen richtigen Wanderhut trägt und auch sonst gut ausgerüstet ist, er hat aber keinen großen Rucksack bei sich. Er mustert mich aufmerksam und nach einer kurzen Begrüßung fragt er mich, ob ich weiter wandern würde als nur einen Tag. Wir kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass er nach seiner Verrentung zwei Fernwanderungen durch Europa alleine unternommen hatte. Einmal von Polen auf dem Jakobsweg nach Santiago di Compostella und ein zweites Mal von Schleswig-Holstein nach Rom. Seine Augen sind wach und funkeln und am liebsten würde er mit mir auf den E8 nach Osten wandern. Aber er fühlt sich körperlich zu schwach. Inspiriert ziehe ich weiter.

Der Mainfrankenweg und der E8 laufen teilweise parallel und sind hier ein Höhenwanderweg. Ich komme auf die bisher schönste Strecke. Ein Höhenwanderweg entlang des Mains bis Klingenberg. Die Aussicht ist fantastisch und begleitet mich den ganzen Weg. Ich kann den Main, die anliegenden Ortschaften, den Odenwald und das Umland sehen. Ich kann das Maintal hören. Laute Motorengeräusche erfüllen das ganze Tal. Alles wirkt sehr lebendig und emsig. Am Weg entlang sind immer wieder modern gestaltete Aussichtsplattformen und es geht durch die Weinberge. Immer wieder zeigen Schilder, was es alles interessantes zu sehen und zu wissen gibt. Offenbar verkaufen auch die Winzer immer wieder ihren Wein an diesem Weg. Ein echter Luxuswanderweg mit lokaler Weinversorgung! Das würde meinem Vater bestimmt gut gefallen.

An der Ruine Clingenberg mache ich Rast. Der dortige Gasthof hat heute Ruhetag. Es gibt eine Terrasse von der man aus gut in das Maintal gucken kann. Ich esse ein bisschen was, lege mich dann auf eine Bank, mache ein Nickerchen und lasse mich von den relativ vielen Touristen nicht stören.

Von dort aus geht es wieder durch den Spessart zuerst runter ins Tal, über eine Landstraße und dann bergan durch den Spessart dem Main aufwärts folgend. Die letzten Kilometer sind immer diejenigen, die mich am meisten anstrengen.

Ich erinnere mich daran, dass ein ehemaliger Kollege in Kleinheubach auf der anderen Mainuferseite wohnt. Ich frage ihn per email, ob er Lust hat, sich mit mir heute Abend zu treffen. Er hat Zeit und Lust!

Kurz vor Oberheubach werde ich noch einmal mit einem tollen Panorama auf Großheubach, Main und Kleinheubach belohnt. Komisch, aus den Erzählungen meines Kollegens hatte ich immer geschlossen, dass es sich um ein kleines verschlafenes fränkisches Bauerndorf handeln müsste, in dem sich eine Firma für Patisserie angesiedelt hatte. Was ich sehe, ist aber viel größer, es gibt ein Schloß, viele Firmen, es ist viel Verkehr und die ganze Stadt brummt und lärmt, so lebendig ist sie.

Mein Kollege muss später herzhaft lachen als ich ihm von meinen enttäuschten Phantasien über seinen Heimatort erzähle.