In der Nacht habe ich entdeckt, dass mich 2 Dinge an Bensheim erinnern werden. Erstens ich habe den Zimmerschlüssel aus Versehen mitgenommen und zwar so einen richtig traditionellen, also keine Plastikkarte. Dafür habe ich etwas zurückgelassen und zwar zweitens das Ladegerät für mein Handy!
Ich schlafe unruhig und kann mir dadurch meine Träume merken. Zwei möchte ich teilen. Der erste Traum war mit einem lieben Freund und ehemaligem Kollegen. Wir fahren in einem Auto, er sitzt am Steuer und redet, ich sitze auf der Rückbank und höre. Auf einmal sitzt er auf dem Beifahrersitz, schaut nach hinten, wedelt mit beiden Händen und freut sich wie ein Schneekönig. „Siehst Du!“ ruft er „so gut funktioniert autonomes Fahren!“. Ich kriege einen kleinen Schreck, weil das Auto einen schwierigen Parcours voller Kurven fährt. Es passiert kein Unfall.
Ob das etwas damit zu tun hat, dass ich ohne Handy um 7 Uhr beim Wirt zum Frühstück angemeldet bin?
Der zweite Traum hat eine junge, hellhäutige, sommersprossige und rothaarige Frau im Mittelpunkt. Sie hat zusätzlich zu den vielen Sommersprossen abstrakte leichtblaue Zeichen im Gesicht. Es sieht aus wie bei indigenen Muster, z.B. den Maori nur in hellblau und nicht zusammenhängend. Ich kann nur schwer ihren Blick erfassen. Ich spreche mit ihr. Sie erzählt mir, dass sie sich schämt wegen ihrem Anblick und deswegen niemandem in die Augen sieht. Ich rede ihr gut zu und versuche mit ihr Blickkontakt aufzunehmen. Zuerst ist es schwierig, doch dann gelingt es mir. Ich muß den Atem anhalten, denn sie hat nur ein Auge in der Mitte. Die Augenfarbe ist blau.
Ich bin sogar früher als 7 Uhr wach und pünktlich beim Frühstück, das für die Umstände sehr gut und passend ist. Ich gebe den Schlüssel dieses Hauses ganz achtsam ab. Die Herausforderungen des Tages sind, wie finde ich ohne meine Kompass Pro Anwendung auf dem Handy meinen Weg ohne mich dabei großartig zu verlaufen? Wie kriege ich den Schlüssel wieder nach Bensheim ohne Postämter auf dem Weg?
Ich gehe los. Es ist noch morgendlich frisch und der Aufstieg liegt vor mir. Ich verlasse das Dorf und wandere zur höchsten Erhebung des Odenwaldes. Überall wird bereits die Heuernte vorbereitet, die Heuwender sind unterwegs und das Heu fliegt nur so durch die Luft. Ich sehe einen roten Milan (oder auch Gabelweihe) aufsteigen. Wow! Ich bin beeindruckt von diesen kunstvollen Seglern, die auch wegen ihrer Segelkünste und Vorliebe für Aas die Geier des Nordens genannt werden.
Ich komme gut voran. Ich habe inzwischen einen Schrittrhytmus beim Gehen entwickelt, so dass ich nicht außer Atem komme und mich auf jeden Schritt entspannt konzentriere. Auf einmal sehe ich ein Reh vor mir auf dem Weg. Es bemerkt mich gar nicht. Ich komme bis auf fünf Meter nah an das Tier ran. So nah war ich einem Reh in freier Wildbahn noch nie. Auf einmal entdeckt es mich, schreckt hoch und verschwindet schnell im Wald. Eine ähnliche Begegnung mit einem Reh habe ich eine halbe Stunde später noch einmal. Diesmal bin ich es der erschrickt, aber ich springe nicht in den Wald.
Zügig erreiche ich die höchste Erhebung des hessischen Odenwaldes der Neukirchener Höhe mit über 600 Metern. Hier steht auch der Kaiserturm, ein Ausflugsziel, das geschlossen hat. Es gibt auch keinen schönen Panoramablick, da der Wald den verstellt. Aber zur meiner Beruhigung ein Schild des Odenwaldclubs, der alle möglichen Wege zeigt und erklärt, unter anderem den E8. Ich bin also noch richtig.
Vom Kaiserturm aus geht es zum Ort Winterkasten immer leicht abwärts. Zuerst durch den Wald und dann durch Felder. Ich durchquere den Ort und komme dann auf einen sehr schönen Weg, der zu dem Städtchen Lindenfels führt. Ein toller Höhenweg, von dem man aus die ganze Umgebung gut sehen kann. Er wird auch von anderen Spaziergängern genutzt. Einen alten Mann werde ich nicht vergessen. Er kommt direkt auf mich zu und sagt erfreut: „Ach, Karl-Heinz!“ Ich bin erstaunt und sage ihm, wie ich wirklich heiße. Er ist enttäuscht und geht weiter.
Auf dem Weg nach Lindenfels sind auf 1000 Meter drei geologische Stationen verteilt, da hier drei ganz unterschiedliche Gesteinsarten zu sehen sind. In der Mitte ist der Bismarkturm, von dem aus ich einen tollen Blick in das Tal habe. Lindenfels ist ein hübsches aber sterbendes Städtchen. Ich versuche ein Ladegerät zu kaufen. Alle schicken mich zu den größeren Städten wie Bensheim oder sogar Darmstadt. Viele Geschäfte sind geschlossen. Ich verlasse Lindenfels. Es geht erst abwärts und dann wieder aufwärts. Der Weg ist zuerst angenehm breit und wird dann immer schmaler. Am Schluß werde ich immer wieder von Brombeerranken angegriffen. Einmal muss ich sogar auf alle viere, weil ein umgestürzter Baum den Weg versperrt. Hier scheint nicht oft jemand zu wandern.
Ich komme raus dem Wald an einer Kreuzung von Landstraßen. Es ist inzwischen bewölkt. Jetzt geht es nochmal steil hoch durch den Wald. Ich schwitze stark und muss immer wieder niesen. Ich habe Heuschnupfen. Da überall im Odenwald gerade das gute Wetter zur Heuernte genutzt wird, habe ich anscheinend meinen Teil mitbekommen.
Ich folge dem Nibelungenpfad eine zeitlang bis ich die höchste Erhebung erreicht habe. Überall ist Wald, alles ist sehr ruhig.
Am Schluß meiner heutigen Wanderung komme ich im Ostertal an. Dort finde ich einen Landgasthof. Jetzt lösen sich die zwei Dinge auf, die ich von Bensheim mitgenommen hatte. Den Schlüssel gebe ich dem Wirt. Der Wirt ist der Bruder der Wirtin aus Bensheim, mit der ich gestern noch telefonieren konnte. Der Wirt hat auch ein Ladekabel für mich. Hurra, die virtuelle Welt hat mich wieder. Deshalb gibt es heute nur ein Foto zur Auswahl, der Blick aus meinem Zimmer.
Wie ich ohne Handy den Weg gefunden habe? Am Abend hatte ich mir am Laptop den Weg angeguckt und mir charakteristische Landzeichen, wie den Kaiserturm gemerkt. Dem Odenwaldclub sei Dank, habe ich dann immer wieder eine E8 Wegmarke gefunden, wenn ich anfing unsicher zu werden. Ich habe mich kein einziges Mal verlaufen!
In dem Landgasthof kriege ich am Abend ein Zimmer und etwas zu essen. Es ist überraschend voll. Heute ist Schnitzeljagd. 15 verschiedene Arten der Schitzelzubereitung werden angeboten, sonst gibt es nichts. Kein Gasthof für Vegetarier. Es sind nur Einheimische da. Sie reden alle einen Dialekt, den ich kaum verstehe. Sie sehen anders aus und haben andere Kleidung an als ich. Ich fühle mich mittendrin seltsam alleine und exotisch.