Archive : Goldsteig

Im Bayrischen Wald: Zenting – Hundsruck

Der Gasthof ist voll. Beim Frühstück sind alle Tische besetzt. Im Haus sind neben vielen Paaren, eine Seminargruppe und eine Gruppe von Wanderern. Das Frühstücksbüffet ist gut sortiert, viele frische Sachen. Es ist hektisch. Die Hygieneregeln machen den Ablauf für das Personal umständlich und sie sind alle im Laufschritt unterwegs. Ich sitze als einziger alleine an einem Tisch. Am Nachbartisch sitzt ein chinesisches Pärchen. Das Gesicht der Frau kommt mir bekannt vor. Ich spreche sie darauf an. Es stellt sich heraus, dass ich sie vor wahrscheinlich acht Jahren im Interview hatte. Sie kann sich an mein Gesicht nicht mehr erinnern. Kein Wunder, bei dem Weihnachtsmannbart, den ich aktuell trage! Jetzt ist sie frisch verheiratet und verbringt ein „Testwochenende“ im Bayrischen Wald, um auszuprobieren, ob sie hier ihre Flitterwochen verbringen wollen. Schon seltsam, man scheint sich wirklich immer zweimal im Leben zu begegnen.

Ich verlasse Zenting. Der Goldsteig war bisher immer sehr gut beschildert. Der E8 ist es seit Tagen nicht mehr. In Zenting läuft der E8 getrennt vom Goldsteig bis Saldenburg. Und schon sind die Wegmarken wieder sehr spärlich. Ich muss genau aufpassen. Es geht durch den Wald, dann überquere ich den Zentinger Bach. Nach einer Weile stosse ich in einem Dorf wieder auf den Goldsteig. Ich beschließe auf den Goldsteig zu wechseln. Leider zuerst in die falsche Richtung. Nach einem Kilometer merke ich es. Frustriert kehre ich wieder um zu dem Punkt, wo ich in die Irre gelaufen bin. Das einzig gute an dem Umweg ist, dass ich ein grünes Heupferd sehe. Es lässt mich ganz nah rankommen, so dass ich es fotografieren kann. Das Insekt ist sehr groß und kann sogar fliegen und doch ist es sehr gut getarnt.

Grünes Heupferd

Ich komme durch ein kleines Dorf. Dort sehe ich schwarze Minirinder. Sie sehen richtig kuschelig aus. Nach einer kleinen Rast geht es wieder durch den Wald. Ich folge einem Bach. Hier wächst sehr viel indisches Springkraut, das teilweise mehr als mannshoch gewachsen ist. Das Springkraut ist mir immer wieder auf meiner Wanderung begegnet. Zuerst noch klein und im Laufe des Sommers immer höher gewachsen.

Ich erreiche mein Tagesziel. Der Gasthof hat leider heute geschlossen. Die Wirtin ist aber nett und bereitet mir etwas kleines Warmes zu essen. Sie erzählt mir, dass schon seit Jahren kein E8 Wanderer bei ihr vorbeigekommen ist. Die Wanderer, die bei ihr zu Gast sind, laufen den Goldsteig entlang. Das bestätigt meine Beobachtungen der letzten Wochen. Ich komme mir wie ein Relikt aus alten Zeiten vor. Der letzte Mohikaner auf dem E8. Kein Wunder, dass die Wegmarkierungen für diesen Weg so oft stiefmütterlich behandelt werden. Die Wegepfleger investieren ihre Zeit und Energie eher auf die – auch von der EU – gesponserten Premiumwanderwege. Die snd wirklich top markiert.

Die Wirtsleute sind sehr nett und helfen mir, die Route für die nächsten Tage bis Passau festzulegen. Die Wirtin will sogar morgen bei einem ihr bekannten Gasthof anrufen, um zu checken, ob ich dort morgen übernachten kann.

Ich fühle mich gut und entspannt.

Im Bayrischen Wald: Lemming – Brotjacklriegel – Zenting

Heute morgen komme ich schwer aus dem Bett. Frühstück gibt es aber im Gasthof nur bis 9 Uhr. Also stehe ich auf. Das Frühstück ist besser als gedacht. Frisches Obst und selbstgemachter Apfelsaft.

Beim Aufräumen verliere ich eine meiner Socken. Jetzt habe ich noch anderthalb Paare. In Passau werde ich mir ein neues Paar kaufen.

Das Wetter ist schön als ich losgehe. Die Wegmarkierungen sind nicht so gut wie gestern. Immer wieder muss ich umkehren und neu ansetzen. Ich bin gereizt. Die Wegmarkierungen verschwinden außerhalb der Ortschaft ganz. Es geht steil in den Wald hinauf. Es wird wärmer und ich schwitze ordentlich. Mein Hemd ist klitschnass. Immer noch keine Wegmarkierung. Allmählich bekomme ich das Gefühl, dass ich den total falschen Weg gewählt habe. Hätte ich bloß einen Pausentag heute gemacht. Ich orientiere mich an der Kompassapp, aber auch die ist nicht richtig hilfreich, wenn überhaupt keine Wegmarkierungen mehr da sind. Auf dem Weg, auf dem ich gerade wandere, ist schon lange keiner mehr gelaufen. Ich denke an das sächsische Ehepaar, die vor mir auf den Goldsteig aufgebrochen sind. Ich bemerke ein Spinnennetz, das direkt über den Weg gespannt ist. Wenn die beiden vor mir hier langgekommen wären, würde das Spinnennetz hier nicht sein. Ich sehe die Spinne. Mann, ist die groß! Und der Spinnenfaden ist richtig fest und zerreißt nicht einfach als ich hindurchgehe. Ich kann regelrecht drübersteigen. Auch einen Frosch sehe ich, der in aller Ruhe den Weg langhüpft und sich von mir fotographieren lässt.

Auf einmal höre ich ein lautes Knacken im Wald. Ein Schwammerlsucher! Ich frage ihn nach dem Weg. Er kennt weder den E8 noch den Goldsteig. Er zeigt mir einen Schleichweg, der zur nächsten Ortschaft führt. Auf dem Schleichpfad erreiche ich schließlich den Ort und ein großes Hotel. Ein verlassenes Winterhotel direkt am Skilift, wie so viele in dieser Gegend. Ein großer Parkplatz vor und hinter dem Hotel. Aber ab hier ist der Goldsteig wieder gut beschildert und Schönwetterwanderer sind unterwegs, ganz alte und ganz junge.

Auf einer Bank mit Blick auf das Hotel mache ich erschöpft Rast. Schade, dass das Hotel geschlossen hat. Ich hätte mir dort ein schönes Mittagessen bestellt und mal nach den Preis für ein Einzelzimmer gefragt. Aber es ist zu und sieht schon ein bisschen verwildert aus. Ich sehe verschiedene Gruppe an mir vorbeigehen Richtung Brotjacklriegel. Eine Familie fällt mir auf, die flott den Hang hochlaufen. Zwei Chihuahuas und zwei schwarzhaarige Töchter in modernen Klamotten.

Eine halbe Stunde später breche ich auch auf. Es geht den Skilift hoch, es stehen sogar Schneekanonen herum. Danach geht es – immer weiter bergauf – über Wiesen wieder in den Wald hinein. Auf einmal sehe ich die Familie mit den Chihuahuas, die gerade eine Pause einlegen. Ich glaube es kaum, es sind die ersten, die ich seit Wochen eingeholt habe und das noch mit Vorsprung! Als ich näherkomme, sehe ich auch warum. Die beiden Mädchen sind erschöpft und frustiert und sehen aus als ob, Weihnachten und Ostern die Geschenke ausgefallen sind. Ich wechsele mit den Eltern ein paar lustige Bemerkungen und laufe weiter. Der Gipfel ist bereits nach 100 Metern erreicht. Auf dem Gipfel steht ein großer Sender, der digital sendet und ein sehr große Reichweite hat. Zusätzlich ist ein Aussichtsturm mit kleiner Gastwirtschaft errichtet worden. Der Blick von da oben ist ein echter Rundblick. Der beste, den ich bisher auf meiner Wanderung hatte. Die Alpen liegen leider wieder im Dunst bzw. in den Wolken. Ich trinke noch etwas auf der kleinen Veranda.

Dann geht es wieder los. Diesmal nur noch bergab. Zuerst durch den Wald, wo es ziemlich steil runter geht. Dann stoße ich auf eine schmale Straße. Verflixt, die Wegmarkierung sind schon wieder so mehrdeutig. Ich habe keine Lust auf so eine Orientierungslosigkeit wie heute morgen. Ein älterer Radfahrer kommt die Straße entlang und fragt mich, ob ich einen Radfahrer gesehen hätte. Ich verneine. Auf einmal kommt der gesuchte Radfahrer hinter ihm dem Berg hoch. Welch Überraschung, anscheinend hat er ihn unbeabsichtigt sogar überholt. Ich muß schmunzeln. Die beiden kommen aus Dortmund und Unna und wir sind sofort im Gespräch. Beide sind schon im Rentenalter und fahren jetzt mit e-Bikes begeistert durch den Bayrischen Wald. Es stellt sich heraus, dass der jüngere den älteren gestern versucht hat zum Wandern zu überreden. Ich bin für die zweite Botschaft des Universums, dass sein Freund mit ihm versuchen soll. So unterhalten wir uns über das Wandern, insbesondere auf dem Goldsteig. Mit den beiden ist es lustig sich zu unterhalten. Ich merke, dass die Fragen, die sie mir stellen nach wie und wo übernachten, wienlange laufen usw., Fragen sind, wo sie ihre eigenen Bedenken und Grenzen haben. Das finde ich spannend. Ich mache sie darauf aufmerksam und sie lachen.

Schließlich laufe ich weiter durch Daxstein, dann durch den Wald und kleiner Ortschaften bis kurz vor Zenting. Immer wieder ein schönes Panorama vor mir. Inzwischen hat das Wetter umgeschlagen, es ist bewölkt und ich spüre die ersten Regentropfen. Ich spute mich. Auf einmal höre ich Schritte hinter mir. Eine Frau mit ihrem Hund zieht an mir vorbei, als ob ich stehen würde. Ich laufe weiter auf Zenting zu. Und schon wieder höre ich Schritte hinter mir und werde überholt. Ein Schwammerlsucher. Bestimmt noch mal 15 Jahre älter als ich. Und schneller!!! Das gibt es doch nicht. Wir kommen trotzdem ins Gespräch. Er spricht so stark Niederbayrisch, das ich nur die Hälfte verstehe. Es ist schon fast wie eine Fremdsprache. Englisch ist einfacher für mich zu verstehen. Er bringt die Schwammerl genau zu dem Gasthof, wo ich noch ein Zimmer ergattert habe. Ich brauch ihm nur hinterher zu hecheln.

Ich schaffe es den Gasthof zu erreichen bevor das Gewitter anfängt. Morgen werde ich auf jeden Fall gar nicht oder viel weniger laufen.

Im Bayrischen Wald: Gotteszell – Landshuter Haus – Lalling

Heute Nacht habe ich gut und lang geschlafen. Beim Frühstück bin ich der Letzte. Als ich Gotteszell durchquere, hält ein entgegenkommendes Auto neben mir: das Ehepaar aus Eschwege wünscht mir alles Gute für die weitere Wanderung! Irgendwie fühle ich mich dadurch vertrauter. Oft denke ich bei meinen Begegnungen mit den Menschen auf dem E8, dass ich sie wahrscheinlich nie wiedersehen werde, was diese Begegnungen für mich zu etwas Besonderem machen. Umso überraschender wenn ich dann doch jemandem zweimal oder auch mehrfach zufällig begegne.

Heute geht es erstmal stetig aufwärts, der größte Teil des Weges geht durch den Wald. An einem etwas dichterem Wegstück sehe ich auf einmal einen Schatten vor mir auftauchen. Ich erschrecke, es sieht aus wie ein Wolf! Nein, nicht ein Wolf, sondern sogar zwei!!! Auf die Begegnung mit verwilderten Hunden in Rumänien habe ich mich geistig schon vorbereitet. Die Begegnungen mit Wölfen dagegen hatte ich zurückgestellt, unter der Annahme, dass diese Tiere sehr scheu sind und den Menschen sowieso meiden.

Ich bleibe stehen. Die Tiere in etwa 30 Metern Entfernung bleiben auch stehen. Ich kann sehen wie ihre schwarzen Köpfe in meine Richtung sich drehen. Ich überlege, ob ich schnell meinen Rucksack ablegen soll als Schutz und nach meinem Messer greife. Auf einmal sehe ich, die Tiere sind nicht allein. Ein Mensch ist schemenhaft zu sehen. Also doch keine Wölfe. Ich bin erleichtert und marschiere weiter. Als ich die Gruppe erreiche, ist mein Adrenalinspiegel wieder auf Normalniveau. Es handelt sich um zwei belgische Schäferhunde, ihrer Besitzerin und deren Sohn.

Ich berichte den beiden von meinem Erschrecken und sie müssen lachen. Die Frau geht gerne mit den Hunden diesen Weg, weil hier so wenig Menschen gehen. Jetzt sind sie auf dem Rückweg und freuen sich schon auf das Mittagessen. Der Sohn hat dieses Jahr sein Abitur gemacht und möchte gerne in Österreich Psychologie studieren. Die inzwischen angeleinten Hunde beäugen mich kritisch, der jüngere knurrt mich anfangs sogar an. Im Laufe des Gesprächs fangen sie an sich zu langweilen, Für mich ein Zeichen, mich zu verabschieden und weiterzuziehen.

Zur Mittagszeit komme ich am Landshuter Haus an. Auf einmal sind viele Menschen da, Tageswanderer und viele Mountainbiker. Ich suche mir einen Tisch. Ich merke, dass die Anziehungskraft von Menschen auf mich in den letzten Tagen gestiegen ist. Die Belegschaft des Hauses hat eine Art Selbstbedienungssytem installiert. Dabei wird der Name und die Telefonnummer vom Wirt aufgenommen, der einem zuletzt noch eine Zahl zuruft. Diese Zahl habe ich dann sofort vergessen. Als ich meine Bestellung aufgegeben habe, fragt mich die Frau nach dieser Nummer. Ähh? Wie war die noch mal? Die Frau hinter mir hat aufgepasst und ruft mir zu: „Meine Nummer ist die 57,“ Aha, und Dankeschön!

Coronabedingt sitze ich an einem Tisch alleine. Es ist interessant, die verschiedenen Gruppen zu sehen: Familien oder Mütter mit Kindern, Gruppe von Mountainbikern (mit und ohne Führer). Eine Gruppen von Taubstummen finde ich besonders interessant, da sie sich still aber lebhaft in ihrer Zeichensprache unterhalten.

Nach einer Stunde laufe ich weiter. Diesmal nicht alleine. Immer wieder werde ich von Wanderern oder Mountainbikern eingeholt. Bin ich wirklich so langsam? Sogar Rentnerpaare überholen mich. Sind die bayrischen Rentner vielleicht alle so gut trainiert und rüstig, dass mich hier auch wirklich jeder einholt? Ich beschließe, dass es an meinem schweren Rucksack liegen muss.

Zwei Sehenswürdigkeiten liegen auf dem Weg nach unten: die hölzerne Hand und die Josephsbuche. Die Geschichte der hölzernen Hand habe ich fotografiert, so dass man sie nachlesen kann. An der Buche habe ich überhaupt nichts spektakuläres gesehen, ausser dass ein Bild von dem Heiligen daranging.

Am Ende des Weges liegt ein großer Parkplatz, der für mich die Beliebtheit des Landshuter Hauses erklärt.

Jetzt geht es ein Stück an der dichtbefahrenen Landstraße entlang. Dann sehe ich den Berghof. Auch der Berghof hat anscheinend schon bessere Tage gesehen. Das Panorama von dem Parkplatz ist toll, man kann weit in das Alpenvorland sehen. Die Alpen sind allerdings wie gestern im Dunst nicht zu sehen. Ich entdecke ein Schild, dass die Geschichte des Berghofes erzählt, der ursprünglich die Stiftung einer Ärztin war, um jungen Ärzten eine Ausbildung zu ermöglichen. Um Geld für die Stiftung zu erwirtschaften, wurde der Berghof zur Skierholung genutzt. Der Klimawandel hat dann dafür gesorgt, dass sich das nicht mehr rentiert.

Der nahegelegene Golfclub dagegen brummt. Es stehen viele Autos da und auf dem Golfplatz ist jedes Loch mit drei bis vier Spielern besetzt. Alle haben gute Laune. Vielleicht weil das Wetter gut ist, das Wochenende begonnen hat und die Kinder noch in Ferienlaune sind.

Ich wandere am Golfclub vorbei. Es ist inzwischen 17 Uhr und ich habe noch acht Kilometer vor mir bis Lalling. Es geht jetzt weiter stetig bergab. Ich habe immer wieder einen schönen Talblick vor mir. Und das ist gut so. Der Blick motiviert mich Immer wieder – insbesondere weil die Sonne immer tiefer steht – die letzten Kilometer nicht nur einfach runter zu laufen, sondern immer mal wieder stehen zu bleiben und die Aussicht bewusst zu genießen.

Trotzdem werde meine Beine müde und ich muss aufpassen, nicht ins Straucheln zu geraten. Kurz vor Lalling komme ich durch einen Wald, in dem es schon dunkel wird. Also jetzt muss ich mich doch sputen. Bald ist es 20 Uhr. Kurz vor Lalling geht es nochmal richtig steil hoch. 700 Metern vor dem Ziel! Wie gemein! Kurz vor 20 Uhr erreiche ich meine Herberge, gerade rechtzeitig, die Küche schließt um 20 Uhr.

Vielleicht sollte ich morgen nicht ganz solange wandern. Meine Füße schmerzen. Manchmal ist ein plötzlicher und stechender Schmerz da. Die Fußpflegerin hatte gemeint, dass kommt von einer zu starken Dauerbelastung und ich sollte regelmässig einen Pausentag einlegen. Vielleicht ist es ja wieder soweit.

Im Bayrischen Wald: Wiesenfelden – Pilgramsberg – Stallwang

Heute morgen ist es bewölkt, aber trocken. Es ist kühl. Einer meiner Lehrer hat uns auf dem Gymnasium beigebracht: „Der Bayrische Wald: Dreiviertel Jahr Winter, Einviertel Jahr kalt“. Bis jetzt stimmt es.

Nach einem Abstecher in die Bäckerei mache ich mich wieder auf den Weg. Der E8 läuft hier nicht nur parallel zum Jakobsweg, sondern auch zum „Goldsteig“. Die Erfinder des Goldsteigs waren schwer aktiv beim Marketing und haben sich einen besonderen Gag ausgedacht und die Rastbänke in Form und Farbe des Wanderweglogos gestaltet.

Goldsteig

Es geht zuerst bergauf und schon nach einer Viertelstunde habe ich den ersten Aussichtspunkt seit langem erreicht. Die Luft ist herrlich klar und frisch und das Laufen geht wie von selbst. Bald bin ich mitten im Wald und es ist bereits so hoch, dass die Wolken wie Nebel wirken und alles geheimnisvoll und dunkel machen.

In Wiesenfelden hatte ich ein Plakat gesehen, dass zum Waldbaden einlädt. Ich fange an zu überlegen, wie und wann das vonstatten gehen soll. Im Sommer? Wenn die ganzen Mücken unterwegs sind? Ist man dann nackt oder hat minimum eine Badehose an? Verläuft das eher ruhig oder ist es wie Kinderplantschen mit viel Geschrei? Die Japaner versprechen sich eine Menge gesundheitlicher Vorteile. Ich dagegen fange an, misstrauisch zu werden. Am Ende des Tages hat man viele Mücken gefüttert und dann?

Heute sind keine Mücken unterwegs, nur ein paar Schwammerlsuchern begegne ich. Die Wegorientierung ist manchmal verwirrend, aber irgendwie schaffe ich es heute, mich nicht größer zu verlaufen.

Vor einer Woche hatte ich ein Gespräch mit einer Bekannten, die kürzlich ihren Bootsführerschein Klasse C gemacht hat. Für sie ist Wandern uninteressant. Sie reduzierte das Wandern auf das Statement: „und dann siehst du schon ein, zwei Kilometer im voraus, wohin du läufst und es dauert ewig bis du dann dort ankommst.“ Jetzt habe ich Zeit darüber nachzudenken. Diese Reduktion finde ich irritierend, vor allen Dingen weil es von jemanden kommt, der gerne Boot fährt. Beim Bootsfahren auf dem offenen Meer beispielsweise hat man oft überhaupt keinen Orientierungspunkt ausser der Sonne. Überall Wasser. Und trotzdem kam diese Reduktion. Ich vermute, hinter diesem Satz steckt mehr. Vielleicht die Anstrengung des Wanderns und das Bewusstsein, das es 15 bis 30 Minuten dauern kann bis man den entfernt liegenden Orientierungspunkt erreicht hat. Vielleicht die Erfahrungsgewohnheit des Autofahrens, die uns suggeriert, dass man diesen Punkt in ein, zwei Minuten erreicht hat und dann kommt was Neues. Vielleicht die Ungeduld, es nicht schneller dorthin zu schaffen. Oder vielleicht noch etwas ganz anderes.

Ich kenne das Gefühl, auf einen Punkt zuzuwandern. Schlimmer finde ich es einen langen, geraden Weg auf der Ebene zu gehen. Ein Weg, der den ganzen Tag und länger dauert. Das mag ich auch nicht. Das ist der Grund, warum ich die ungarische Puzta vermeiden möchte. Das stelle ich mir auch nur anstrengend, mühselig und langweilig vor. Das ist der Inbegriff des „Kilometer machen“ für mich oder „den Forrest Gump machen“. Einfach nur stumpf, ohne nach Links oder Rechts zu schauen, zu laufen.

In Mitteleuropa, insbesondere auf den Wegen, die ich bisher gewandert habe, erlebe ich es als anders. Die gefühlte Anstrengung ist letztendlich eine Geduldsübung, da ich mein Tempo und die Pausen selber bestimme. Wenn es für mich zu anstrengend wird, werde ich langsamer. Wenn es noch anstrengender wird, mache ich eine Rast. Dann geht es auch wieder.

Die Sehgewohnheit des Autofahrers verändert sich beim Wandern, da man auf einmal Dinge in der Natur sieht, die man als Autofahrer oder Radfahrer einfach übersieht, weil man zu schnell ist. Es ist dann nicht mehr die Fixierung auf einen Punkt, der ein oder zwei Kilometer vor einem liegt, sondern die Entdeckung, was liegt am Wegesrand. Außerdem hat ich es bisher nicht oft, soweit voraus meinen Weg sehen zu können. Die Blickweite ist normalerweise – insbesondere im Wald – wesentlich kürzer. Manchmal sogar nur ein paar Meter weit.

Ansonsten Wandern entschleunigt mich ungemein und das ist gut so. Es gibt keinen Zwang schnell oder weit zu laufen. Erst am Nachmittag, wenn ich abschätzen kann, wieviel Lust ich noch habe, entscheide ich mich für einen Punkt auf dem Weg, um dort eine Unterkunft zu finden. Ansonsten fühle ich mich frei von irgendwelcher Ungeduld.

Gegen Mittag verlasse ich den Wald und komme an einzelnen Gehöften mit umliegenden Weiden vorbei. Eine große Wiese gefällt mir besonders. Es gibt eine Goldsteigparkbank, eine schöne Aussicht und eine große Herde Schafe.

Bei Pilgramsberg gehe ich vom Weg runter, um einen Gasthof zu finden. In Pilgramsberg gibt es eine große Fabrik für Heiztechnik, Klima, usw., viele Wohnhäuser, eine Tankstelle, aber keinen offenen Gasthof. Der Hubertushof erregt meine Neugierde: ein Hotel mit großer Terrasse und Parkplatz, auf dem auch ein paar Autos stehen. Aber alles sieht verlassen und wüst aus. Des Rätsels Lösung, es ist ein Hotel für Selbstversorger. Auf der Terrasse mache ich eine Rast und bei den ersten Sonnenstrahlen des Tages ein kleines Nickerchen.

Danach geht es weiter. Im Wechsel Wiesen, Wald und einzelne Bauernhöfe. Überall stehen Obstbäume am Weg. Die Zwetschgen sind reif und schmecken frisch vom Baum richtig toll. Ich muss aufpassen, dass ich nicht zuviele davon esse.

Am Ende des Nachmittags erreiche ich Stallwang und bekomme ein Zimmer in einem wandererfreundlichen Gasthof. Der Gasthof wird von einem Oberpfälzer, einem Tschechen und dessen Freundin betrieben. Ich bin der einzige Gast und komme mit dem Tschechen ins Gespräch. Sie haben bisher die Coronazeit überstanden, weil die Bürger fleissig bei ihnen Essen bestellt haben. Seine Freundin ist 24 Jahre jünger als er. Anfangs dachte ich, sie wäre seine Tochter, welch ein Irrtum! Seit einem Jahr sind die beiden ein Paar. Eine menschliche Tragödie hat sie zusammengebracht. Sie sind ein schönes Paar.