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Im Taubertal: Gamburg – Tauberbischofsheim – Lauda

Heute mittag bin ich mit einem ehemaligen Kollegen und seiner Frau in Tauberbischofsheim zum Mittagessen mit anschließendem Wandern verabredet.

Der Himmel ist bewölkt und eine frische Brise weht. Ich durchquere das schöne Gamburg und verlasse es an der Stelle von Burg Gamburg, einer sehr gut restaurierten Anlage in Privatbesitz. Gamburg gefällt mir gut und ich beschließe irgendwann mal dort zu zweit ein Wochenende zu verbringen.

Burg Gamburg

Zuerst geht es aus dem Taubertal raus auf die Höhe. Oben angelangt bin ich zum ersten Mal durchgeschwitzt. Die umliegenden Berge sind flacher als der Spessart oder Odenwald und nicht so dicht bewaldet. So wechseln sich Streuobstwiesen, Felder und Wald ab. Mir gefallen die Blühstreifen, die neben den Feldern von den Landwirten angelegt worden sind. Zur Zeit blühen diese und es summt und brummt darin gewaltig.

Heute habe ich eine Termin. Zuerst bin ich versucht, schneller zu wandern, um ja den Termin zu halten. Ich besinne mich. Und wenn ich nicht so schnell bin, dann wird mich mein Kollege halt vor Tauberbischofsheim an einer geeigneten Stelle mit dem Auto abholen. Ich gehe ruhig weiter und achte auf meine Umgebung. Heute sind mehr Leute auf den Wanderwegen, wahrscheinlich weil Sonntag ist.

In Tauberbischofsheim findet mich mein Kollege dank der modernen Kommunikation- und Navigationswerkzeuge so gut wie ohne Verzug. Wir freuen uns, uns wiederzusehen. Mein Kollege hat mehrere Jahre bei mir ein- zweimal im Monat übernachtet, um Wegzeit zu sparen. Das hat zu einer beständigen Freundschaft geführt und wir verstehen uns gut.

Als erstes gehen wir in einem Gasthof essen. Ich werde eingeladen. Ein herzliches Dankeschön dafür! Am Schluß schafft es sogar mein Kollege den Abschlußkaffee for free zu verhandeln, da wir lange warten mussten. Das Warten war mir aber gar nicht so unrecht, weil wir schön Zeit zum Austausch hatten.

Danach gehen wir gemeinsam auf den E8. Beide sind interessierte und gebildete Wanderer. Die Frau meines Kollegen ist sogar Biologielehrerin und kennt sich gut mit Pflanzen und Tieren aus. So nutze ich einige Gelegenheiten sie zu fragen, was gerade so am Wegesrand steht oder welcher Falter uns grade umflattert. Für mich vergeht die Zeit wie im Flug. Mal unterhalte ich mich mit ihr, mal mit ihm, mal haben wir ein Gespräch zu dritt. Nach 5 Kilometern müssen die beiden leider wieder umkehren, um zum Auto nach Tauberbischofsheim zu wandern. Schade! Wir verabreden uns, im Oberallgäu mal eine Wandertour oder einen Klammdurchstieg zu machen.

Ich überquere die Autobahn in östlicher Richtung und mache an einem Wetterkreuz Rast. Dort sitzt bereits ein seniores Ehepaar, die aus Dortmund nach Tauberbischofsheim gezogen sind. Wir kommen ins Gespräch und die Frau fragt mich relativ schnell und direkt nach den „Leistungsparamentern“ meiner Wanderung. Ich bin irritiert und frage ihren Gatten, ob seine Frau immer so neugierig sei. Er antwortet mir, sie sei nicht neugierig, sondern wissbegierig. Aha. Sie interviewt mich weiter und ich frage ihn, ob seine Frau immer so wissbegierig sei. Er lacht und schweigt dann. Endlich erklärt sich die Frau, was sie so an meiner Wanderung interessiert. Sie möchte selber mit dem Fahrrad von Tauberbischofsheim nach Köln fahren, aber sie traut sich noch nicht so recht, weil es ihr zu teuer erscheint. Aha! Ich mache den beiden Mut, was die Dauer und die Kosten einer solchen Unternehmung betrifft. Am Schluß gibt sie mir ihre Adresse. Wir haben einen Deal. Falls ich das Schwarze Meer erreiche, schreibe ich den beiden eine Postkarte, die sie dann in Ehren halten werden. Und das Paar wird mit dem Fahrrad nach Köln fahren und meinen Vater besuchen und ihm schöne Grüße ausrichten von mir. Das haben wir uns in die Hand versprochen.

Es geht weiter durch Felder, Wiesen und Waldstücke. Inzwischen ist es schon fast 18 Uhr. So spät war ich bisher noch nie ohne Quartier. Ich erreiche Oberlauda. Keine Unterkunft und keine Busverbindung heute, die mich vielleicht in eine nahegelegene Stadt bringen könnte. Ich muss zu Fuß weiter nach Lauda. Ich bin müde. Ich verlasse den E8 und laufe zuerst an einer Landstraße entlang, später durch einen Vorort. Lauda ist eine hübsche mittelalterliche Stadt, die hervorragend in Schuss ist. Ich komme an einer Eisdiele vorbei und hole mir einen Eisbecher. Die Besitzerin gibt mir Tipps, wo ich eine Unterkunft finden könnte. Am Schluß kriege ich noch einen Maxi-Bananen-Milchshake. Ich muss an der Theke stehen bleiben, weil sie noch dreimal nachschenkt.

Am Ende des Tages habe ich Glück und erwische das letzte freie Zimmer der Stadt. Der Wirt klärt mich auf, warum die Herbergen hier so gut ausgelastet sind. Diesmal sind es nicht die Touristen, sondern Mitarbeiter der Deutschen Bahn, die hier regelmässig übernachten und 90% der Übernachtungsgäste stellen. So konnte die Gastronomie in Lauda bisher gut die Coronakrise überstehen. Alles ist voll ausgebucht bis Ende des Jahres. Ich bin froh, dass ich noch etwas gefunden habe.

Im Taubertal: Wertheim – Reicholzheim – Kloster Bronnbach – Gamburg

Heute ist der fast 80-jährige Wirt wieder derjenige, der alles macht: Service – Empfang – Rezeption -Küche. Wie schon gestern Abend. Ein Gast fragt ihn, ob er alles allein machen muss. Er antwortet mit: „Nein, manchmal mache ich auch eine Pause.“ Später erzählt er mir, dass seine deutsch-brasilianische Ehefrau eine Woche vor dem Lockdown nach Brasilien gereist ist und nicht mehr zurückkommen darf. Seitdem macht er den Laden alleine.

Am Anfang laufe ich durch die Altstadt von Wertheim quer über den Marktplatz. Überall sind Andenken- und Kunst-Stände aufgebaut und es sind schon einige Touristen da, die in den verschiedenen Cafés ihr Frühstück einnehmen. Es geht hoch in Richtung Burg Wertheim. Die ursprüngliche Route des E8 kann ich nicht gehen, da auf dem Weg liegende Terassenbauten baufällig sind. Ich muss einen Umweg laufen, direkt an der Burgruine vorbei. Sobald ich Wertheim verlasse, bin ich wieder allein. Es geht steil den Berg hinauf durch den Wald. Als ich auf der Berghöhe angekommen bin, geht es auf einem Höhenweg weiter. Der Bergrücken ist schon fast wie ein Hochplateau, eben und breit. Ich komme durch Wiesen und Felder an einem Hof vorbei. Vor 12 Uhr steige ich in den Ort Reicholzheim an der Tauber ab. Hier kaufe ich mir eine Brotzeit. Danach geht es wieder hoch auf den Bergkamm. Es geht an einen Wald vorbei. Das Wetter ist sonnig, aber immer wieder kommt eine frische Brise auf. Der Wald ist abwechslungsreich und teilweise verwildert.

Der E8 führt an dem Kloster Bronnbach vorbei, einem ehemaligen Zisterzienserkloster, das jetzt für Schulungen und Seminaren genützt wird. Ich finde es gut, dass der E8 solche Sehenswürdigkeiten auf der Route berücksichtigt. In den Biergarten der Klosterschänke gehe ich nicht, fast alle Tische sind mit Radlern besetzt. Ich besichtige das Kloster. Es ist ein altes Kloster, das in der gotischen Zeit gebaut wurde, dann im Barock und Rokoko seine Ausgestaltung erlebte. Alles ist großzügig angelegt. Das Kalefaktorium gefällt mir. Die Wärmestube der Mönche ist jetzt ein Kaminzimmer, in dem verschiedene Sitzgelegenheiten, Couchtische und Sofen stehen. Ich setze mich auf einen der überraschend bequemen Sitzgelegenheiten. Es ist angenehm kühl und ich werde schläfrig. Ich schlafe ein. Später weckt mich eine Mitarbeiterin, die etwas aus dem Raum holt. Sie beruhigt mich und empfiehlt mir, mich nicht stören zu lassen.

Nach dem Kloster geht es wieder auf die Berghöhe in den Wald und ich erreiche am Ende des Nachmittages mein Tagesziel Gamburg an der Tauber. Ein sehr idyllischer Ort mit Gänsen, die den Rasen vom Fußballplatz kurz halten und Kindern, die im Fluß baden. Die Gänse rufen auch Nachts immer wieder, ansonsten ist alles ruhig.

Mein Blick aus dem Gästezimmer auf Gamburg und Burg Gamburg

Ich habe Glück und kriege im ersten Gästehaus „Haus Martin“ das gelbe Zimmer. Eigentlich war das Zimmer reserviert, wurde aber heute vormittag kurzfristig storniert wegen Corona. Die Wirtin bietet mir Kirschen an. Bald ist die Kirschenzeit in der Region vorbei. Immer wieder habe ich in den letzten Tagen von Kirschbäumen am Wegesrand genascht. Heute waren sie besonders süß und überreif. Ich freue mich über die angebotenen Süßkirschen und esse sie alle auf.

Ich tausche mich mit einem ehemaligen Kollegen aus. Wir verabreden uns morgen zum Mittagessen und planen dann mit seiner Frau gemeinsam ein Stück des Weges zu laufen. Ich bin schon gespannt, wie das gemeinsame Wandern wird.

Am Main entlang: Faulbach – Hassloch – Wertheim

Gestern habe ich mit meinem Bruder telefoniert. Es war sehr ermutigend für mich. Er liest regelmässig den Blog und verfolgt wohlwollend meine Wanderung.

Ich habe mein Ladegerät für meinen Laptop nicht mehr und der Strom reicht nicht mehr lange. Ich bin mitten in der Provinz und es war schon in Obernburg nicht möglich Zubehör zu kaufen. Heute morgen bin ich kurz davor mit der Westfrankenbahn nach Aschaffenburg über eine Stunde oder Crailsheim über 2 Stunden zu fahren, um dort eines zu kaufen und dann wieder an den E8 zu fahren. Der ganze Tag wäre mehr oder weniger vertrödelt. Ich suche im Internet, ob es vielleicht noch eine andere Möglichkeit gibt. Tatsächlich gibt es einen Elektronikladen im nächsten Ort, an dem die Bahn nur hält, wenn jemand das Stoppsignal drückt. Ich rufe um 8 Uhr an. Der Chef des Ladens meldet sich freundlich und hat erstaunlicherweise das Ladegerät auf Lager!

Beruhigt gehe ich los. Am Friedhof von Breitenbrunn begegnen mir zwei Männer vom Bauhof, die mit ihrem Fahrzeug etwas am Friedhof erledigen. Kurz denke ich darüber nach, ob sie mich das Stück nach Faulbach mit nehmen können. Aber ich lass es, der Morgen und der Weg nach Faulbach durch die Streuobstwiesen ist einfach zu schön. Und schon sehe ich wieder zwei der Milane von gestern.

In Faulbach begegne ich den Männern wieder. Diesmal leeren sie die Mülleimer am Mainufer. Ich begebe mich wieder auf den E8. An der nächsten Kreuzung: die Männer vom Bauhof. Einer der beiden trägt eine Sonnenbrille, wie sie damals zu Diskozeiten cool war. Er winkt mir. Ich winke zurück. Der Mann mit der Sonnenbrille spricht mich an, er denkt ich hätte mich verlaufen. Wir kommen ins Gespräch. Sie raten mir nach Hasloch nicht auf dem E8 zu wandern, sondern am Main entlang. Sie begründen die Empfehlung, dass der E8 nicht gemulcht und es am Main schöner sei. Ich lasse mich überreden. Sie fahren weiter. Und schon sehe ich sie an der nächsten Unterführung, deren Höhe sie ausmessen. Als ich dann am Mainfrankenweg aus Faulbach raus marschiere, kommen sie mir entgegen. Wenigstens meinen Rucksack hätte sie ja mitnehmen können. Sie winken mir wieder zu. Zum letzten Mal heute.

Ich wandere dann den Mainfrankenweg am Main entlang. Der Main ist schön. Die Fahrradfahrer nicht, sie fangen an mich zu nerven. Besonders diejenigen, die in größeren Gruppen fahren. Die meisten sind im Seniorenalter. Alle mit Funktionskleidung, Schutzbrillen und Helmen. Die Bikershop Mitarbeiter sind anscheinend gute Verkäufer. Ich bin der einzige Wanderer. Das nächste Mal werde ich die Wege mit Fahrradfahrern meiden.

In Hasloch finde ich den Elektronikladen. Der Laden ist modern eingerichtet. Der Chef ist nicht da, nur eine junge Verkäuferin. Am Anfang ist sie misstrauisch, später kommen wir gut ins Gespräch. Sie hat das Ladegerät da. Ich probiere es gleich aus. Netterweise darf ich das W-Lan benutzen. Ich lade meinen Blog vom gestrigen Tag hoch. Ich habe die ersten Rückmeldungen bekommen, Verwandte haben sich schon Sorgen gemacht, weil am Morgen nichts neues im Blog war. Ich bekomme eine Tasse Kaffee spendiert. Die Verkäuferin ist ursprünglich aus der Ukraine und nicht so jung wie ich ursprünglich dachte. Sie lacht, als ich sie darauf anspreche, und sagt, dass sie nachts immer im Kühlschrank übernachten würde, das hält frisch. Ich erzähle ihr von meiner Reiseroute. Sie rät mir eindrücklich davon ab, durch die Ukraine zu wandern. Bei der Einreise müsste ich 2 Wochen in Quarantäne und dann nochmal 2 Wochen, wenn ich nach Rumänien ausreisen würde. Da hat sie durchaus ein gutes Argument. Außerdem soll der E8 in der Ukraine nicht ausgeschildert sein.

Gut ausgestatteter Elektronikladen mitten in der Provinz in Hasloch

Ich wandere weiter, diesmal wieder durch den Spessart. Es ist ein schöner Höhenwanderweg im Wald. Oben mache ich an einem Südhang Rast und wundere mich über terrassenförmige Anlagen, in denen aber alle möglichen Arten von Bäumen wachsen. Waren hier früher Weingärten, die später dann aufgegeben wurden und allmählich verwildern?

Ich komme aus dem Wald raus und laufe über Streuobstwiesen nach Wertheim. In Wertheim habe ich eine Unterkunft mitten in der Altstadt gefunden. Es liegt sehr idyllisch und ich kann hören, wie die Nachbarn sich über die Fenster auf fränkisch unterhalten. Die Stadt selber sieht aus wie aus dem Mittelalter und ist gut erhalten. Es sind viele Touristen da und auch die entsprechenden Geschäfte. Wertheim und seine Fußgängerzone in der Altstadt erinnern mich an die Drosselgasse in Rüdesheim, nur die Chinesen und Japaner fehlen. Dafür gibt es hier die Radfahrer.

Am Main entlang: Collenberg – Dorfprozelten – Faulbach

Heute morgen regnet es. Ich werde bereits um 6:45 Uhr geweckt und bekomme das Frühstück auf das Zimmer gebracht. Toller Service, nur ein bisschen früh. Abgemacht war 7 Uhr gewesen. 

Ich breche nach dem Frühstück bei leichtem Nieselregen auf. Eine Wohltat nach der schwülen Wärme von gestern. Am Anfang wandere ich am Main entlang. Es ist wunderbar. Die Luft ist frisch, der Main liegt ganz ruhig, fast bewegungslos, neben mir. Viele Wasservögel sind unterwegs und kein bisschen scheu. Ich bin wie verzaubert und kann mich vom Main kaum losreißen. Aber nach ein paar Kilometern geht es wieder in den Wald. Im Wald ist es auch frisch und kühl und überall naß. 

Ich komme an der Ruine Collenburg vorbei. Hier mache ich meine erste Rast. Ich ziehe meine inzwischen nassgeschwitzten Oberteile aus und lasse sie ein bisschen ausdampfen. Der Regen hat zwischenzeitlich nachgelassen. Von hier oben habe ich einen guten Ausblick auf den Main und seine Ufer.

Es geht weiter durch den Wald. Mittags bin ich in Dorfprozelten. Zum ersten Mal klappt mein Timing: ich bin zur Mittagszeit in einer Ortschaft, ich habe Appetit und es gibt eine Wirtschaft, die geöffnet hat. Fränkische Küche. Ich liebe die Klöße mit Soße. 

Ich frage die Wirtin, ob sie eine Übernachtungsmöglichkeit in meinen Tageszielort wüsste. Sie verneint und behauptet, dort und in den weiteren Ortschaften würde es nichts mehr geben.  Auf Kuba hatte ich so eine Reaktion auf meine Anfrage anders erlebt. Ich war einmal mit meinen Kindern auf Kuba, mit einem Mietauto, alles selbst organisiert. Dort ist es wie folgt abgelaufen. Sobald wir ein Quartier (eine Casa Particulares) hatten, wurden wir von den Herbergswirten immer weiterempfohlen. Jedes Mal haben sie sogar vorher im Zielort angerufen, um sicher zu stellen, dass es auch freie Zimmer gibt. Es gibt in Kuba ein informelles Netzwerk der privaten Herbergswirte. Es hatte immer geklappt. Hier in Mainfranken ist das anders: Das Internet zeigt nichts an und das fränkische Herbergswirte-Netzwerk  existiert nicht. 

Es regnet wieder und ich laufe weiter. Es geht in den Spessart durch den Wald über Streuobstwiesen und an Bauernhöfen vorbei. Es ist alles sehr abwechslungsreich. Ich folge dem Fränkischen Marienweg, an dem immer wieder Marienstatuen oder sogar Altäre stehen. Ich wurde immer wieder in den letzten Tagen gefragt, ob ich auf einem Pilgerweg sei. Das interessiert die Leute sehr und sie teilen mit mir dann den Wunsch, einmal im Leben den Jakobsweg zu gehen oder sie haben diesen teilweise schon begangen. Vielleicht hat das auch mit der Frage nach „spirituell“ oder „kontemplativ“ zu tun. Ich werde nachdenklich. Ich fühle mich aktuell eher wie ein deutscher Romantiker. Die haben im 19. Jahrhundert den Zauber und die Magie der Natur für sich entdeckt und sind gerne raus und wandern gegangen. Die deutschen Romantiker sind inzwischen ausgestorben, wahrscheinlich war Heinrich Heine der letzte und der hat sich gerne über die anderen Romantiker lustig gemacht. Ich fühle mich heute wie ein deutscher Romantiker: Der stimmungsvolle Morgen im Nieselregen am Main. Die Begegnungen mit wilden Tieren. Das Alleinsein im Wald und auf dem Fernwanderweg. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das ich schon irgendwie ein Quartier und was zu Essen und Trinken finden werde. Meine Tante würde sagen, das Universum sorgt schon für dich, du musst dich nicht selber sorgen. Mein Heine sind die Kriebelmücken, Brombeerranken und Brennnesseln, die sich über mich lustig machen.

Ich komme an der Ruine Henneburg vorbei. Die Ruine ist teilweise eingerüstet und die alte Burg wird wieder hergestellt. Es soll die größte Burgruine in Bayern sein. Von da oben gibt es das schönste Panorama des heutigen Tages. Es geht weiter nach Faulbach auf einem Höhenweg entlang des Mains. Sehr schöner weicher Boden. Das ist für die Füße echtes Genusswandern. Heute hatte ich auch schon Pfade gehabt, wo ich mir eine Machete gewünscht habe, um die Brombeerranken und Brennnesseln aus dem Weg zu schlagen. Die haben die letzen Tage tüchtig in ihr Wachstum investiert. Es kann schon lange keiner mehr den E8 gelaufen sein.

In Faulbach angekommen, setze ich mich an das Mainufer und bewundere ein Lastschiff, das gerade die Schleuse passiert. Ich versuche ein Quartier zu finden. Wie schon im letzten Ort angekündigt, nicht ganz einfach. Ferienwohnungen werden nur an mehrtägige Gäste vermietet und nicht an One-Night-Stand-Hiker. Ich versuche es im nahegelegenen Café. Der Wirt ist hilfreich, kennt aber nur Herbergen in weiter entfernten Ortschaften. Er ist in Erzähllaune und berichtet mir von einem Wanderer, der letzte Woche bei ihm einen Cappuccino getrunken hat und nach Wien wandern wollte. Ich bin elektrisiert. Ich bin tatsächlich nicht der einzige auf dem E8! Und der 78-jährige Mann hat nur 6 Tage Vorsprung, da könnte ich ihn vielleicht vor Wien noch einholen. Der Wirt erzählt weiter, von einer Schiffersekte. Die Mitglieder dieser Sekte arbeiten auf den Lastschiffen und müssen einmal in ihrem Leben von der holländischen Grenze zu Fuß entweder bis nach Rom oder Wien wandern. Auch die kehren gerne bei ihm ein, meistens im September oder Oktober, meistens Holländer, aber auch Deutsche. 

Ich verabschiede mich und versuche mein Glück in einer Ortschaft zwei Kilometer von Faulbach entfernt. Dabei muss ich an das Gespräch mit dem Wirt denken und eine Idee fängt an, in mir zu entstehen. Was wäre, wenn ich tatsächlich das Schwarze Meer erreichen sollte. Bisher habe ich mir keine Gedanken gemacht, wie ich dann wieder nach hause komme. Aber jetzt…. Falls ich wirklich das Schwarze Meer erreichen sollte, dann könnte ich doch auf einem der Lastkähne anheuern oder eine Passage buchen. Und dann mit dem Schiff vom Ufer des Schwarzen Meeres die Donau hoch, über den Main-Donau-Kanal auf den Main, Mainabwärts an Frankfurt vorbei zum Rhein, in Bingen schließlich an Land gehen und dann das Nahetal hochwanden bis Bad Kreuznach. Das wäre dann nur noch ein Klacks. Die Idee fängt an mir zu gefallen.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Ich sehe 4 Milane am Himmel. Wahrscheinlich 2 Altvögel und ihre Jungvögel. Die Eltern zeigen ihren Jungen, wie sie elegant die Thermik nutzen können. Es sieht super aus. Einen kurzen Moment später fällt mir ein Schwarm Rabenkrähen auf. Alle haben einen gegabelten Schwanz. Diese Art kenne ich noch nicht. Ob meine Onkel aus Nordhessen wissen, um welche Art es sich handelt?

Ich erreiche den Ort Breitenbrunn und einen Gasthof, der gerade öffnet. Es gibt ein Zimmer für mich. Kein W-Lan, kein Fernseher, kein Besuch, kein anderer Gast. Fast komme ich mir vor wie bei meinem letzten Klinikaufenthalt. Aber es gibt etwas Gutes zu essen, es ist günstig und ich komme in den Genuss der reduzierten Mehrwertsteuer. Meine angefachte Konsumfreude lässt mich die gesparte Mehrwertsteuer in das Trinkgeld investieren.

Am Main entlang durch den Spessart: Großheubach – Collenberg

Heute morgen beim Bezahlen frage ich nach dem neuen Mehrwertsteuersatz. Der Wirt beklagt sich sofort über den administrativen Aufwand, den das alles bedeutet und dass er selber nichts ändert, weil ihm das alles zu teuer sei. Also wird meine Konsumfreude nicht weiter befeuert und der Wirt verdient 3% heute mehr an mir. Dafür kriege ich eine handgeschriebene Rechnung, weil ja die Registrierkasse nicht umgestellt wurde.

In Großheubach geht es sofort direkt nach oben auf den Engelsberg. Mein Kollege hatte mir gestern noch mitgegeben: „Da sind die Treppen, die direkt in den Himmel führen!“ Eine Treppe mit über 600 Stufen führt aus dem Ort hoch auf dem Berg, wo ein Franziskanerkloster steht. Ich steige die Treppe hoch und bewundere die Mönche. Wie raffiniert: jeder Besucher muss die Treppe hoch steigen, kommt außer Puste, schwitzt, muss in nach vorne gebückter Haltung gehen, sonst fällt er rückwärts wieder runter und wenn er endlich oben ist, dann hat er seine Sünden schon ausgeschwitzt und die richtige demütige Körperhaltung trainiert, um mit dem Abt zu reden.

Das Kloster mit seinem Klostergarten ist das architektonische Highlight des Tages. Von dort oben habe ich einen tollen Blick auf das Maintal und seine Städte. Ein gut gepflegter Klostergarten hat ein Marienheiligtum im Zentrum. Hier kommen gerne Katholiken her, um bei der heiligen Maria Wünsche abzugeben und sich zu bedanken. Heutzutage kann jeder auch mit einem Auto hochfahren und muss nicht wie ich zu Fuß auf den Berg.

Von dort aus geht es durch den Spessart weiter auf dem Mariahilf-Weg, der parallel zum E8 verläuft. Der Spessart steht hier unter Naturschutz und hat schöne hohe Bäume, wie Buchen, Eichen, aber auch Kiefern. Ich bin wieder alleine. Kein Mensch begegnet mir auf dem Weg. Heute ist es schwülwarm und der Weg zieht sich durch den Wald. Die Bäume stehen hier nicht so dicht und es kommen immer wieder Abschnitte, auf denen ich in der prallen Sonne gehen muss. Ich achte auf die Wolken, da der Wetterbericht Gewitter für heute Nachmittag bzw. Abend angekündigt hat. Ich fange an müde zu werden. Der Wald ist zwar schön, aber bisher ereignisarm.

Am späten Nachmittag werde ich dann belohnt. Vier Hirschen kreuzen meinen Weg! Und 10 Minuten später noch spektakulärer: ein Reh mit ihrem Kitz. Ich kann beide minutenlang beobachten, dann bemerkt mich die Mutter und beide springen in hohen Sprüngen davon. Wow! Das Wild ist hier gar nicht scheu. Wolf, Luchs und Mensch verirren sich in diesen Teil des Waldes anscheinend selten.

Heute suche ich mein Quartier auf die traditionelle Weise. Laut Internet gibt es kein Hotel oder Pension in Collenberg, meiner nächsten Station. Ich gehe langsam von der Peripherie ausgehend in Richtung Ortsmitte. Dabei schaue ich, ob vielleicht jemand ein Zimmer oder Ferienwohnung vermietet. Ich finde nichts. Das wäre nach 20 Kilometern unschön noch fünf Kilometer weiterwandern zu müssen in der Hoffnung im nächsten Ort etwas zu finden. In der Ortsmitte sehe ich einen alten Gasthof, der mich ein bisschen an den Bretthauer in Erschwerdt erinnert. Tatsächlich steht sogar die Eingangstür offen. Ich habe keine Lust die Gesichtsmaske aufzusetzen und rufe deswegen rein: „Gibt es etwas zu trinken?“ Sofort kommt die Antwort: „Ja!“ Ich frage ein zweites Mal: „Gibt es etwas zu essen?“ Die Antwort lautet: „Nein“ Und ich frage als Drittes: „Gibt es eine Übernachtungsmöglichkeit?“ Leider ist die Antwort schon wieder „Nein“.

Ich beschließe trotzdem einzukehren und etwas zu trinken. Ich bin müde und abgekämpft. In der Kneipe sitzen ein Mann und eine Frau. Ich bestelle eine Johannisbeerschorle und frage, wo es eine Unterkunft geben könnte. Der Mann antwortet, dass sei schwierig in Collenberg, sehr schwierig. Ich trinke mein Glas halbleer und überlege. Auf einmal sagt der Mann, er hätte eine Idee und schon ist er raus. In aller Ruhe trinke ich weiter. Nach fünf Minuten ist der Mann wieder zurück. Bekannte von ihm vermieten mir ein Zimmer. Ich trinke das Glas aus, bezahle und er zeigt mir den Weg. Nur 100 Meter weiter bekomme ich ein Zimmer bei einer Familie. Nicht nur das, ich werde herzlich begrüßt und aufgenommen, bekomme ein frisch zubereitetes leckeres Abendbrot und das Versprechen auf ein Frühstück am nächsten Tag. Alles für 45 €.

Ich bin dankbar.