Archive : Juli

In der Hohenlohe: Großenhub – Wildenstein – Lautenbach – Dinkelsbühl

Meine Wirtin erzählt mir heute morgen, dass der Schwäbische Albverein vor ein, zwei Jahren die Wegmarkierungen erneuert hat. Offensichtlich haben sie dabei die Wegführung des E8 an den Jagststeig angepasst. Meine digitale Karten von dem Kompassverlag zeigt immer wieder einen ganz anderen Weg an. Ich orientiere mich nur noch an den Wegmarkierungen des Albvereins und checke nur noch manchmal mit der App, wo ich bin. Das klappt ganz gut.

Von Großenhub geht es direkt über die Felder. Heute morgen scheint die Sonne und es ist kein Wölkchen am Himmel. Es geht durch ein Dorf hinauf in den Wald. Am Morgen finde ich den Wald immer am besten. Es ist kühl, alles riecht frisch und es sind noch keine Mücken unterwegs.

Das nächste große Hindernis ist die Autobahn A7, die ich auf einer Brücke überquere. Ich bin schon oft die A7 hier entlang gefahren auf dem Weg ins Oberallgäu. Heute ist der Verkehr dicht. Es ist Ferienzeit. Von der Brücke geht es aufwärts nach Wildenstein. Als ich das Zentrum der Gemeinde erreiche, fangen die Glocken an lang zu läuten. Heute wird in Wildenstein Konfirmation gefeiert. Später im Jahr als üblich und im Freien. Ich verfolge für 10 Minuten den Beginn des Gottesdienstes. Immerhin sechs Konfirmanden in dem kleinen Ort und alle festlich angezogen. Ich muss an meinen Jüngsten denken, dessen Konfirmation bisher auf unbestimmt verschoben wurde.

Nach Wildenstein geht es wieder in den Wald. Hier soll es laut einem Schild einen Zauberwald geben. Im Wald sind verschiedene Holzfiguren in der Form von Zwergen und Elfen aufgestellt. Der Zauber im Wald ist für mich etwas anderes.

In Lautenbach gibt es einen kleinen See. Die Kellnerin im Restaurant erzählt, dass man auch darin baden kann, danach müsste man sich aber duschen, so schlammig ist das Gewässer. Daraufhin kann ich mir verkneifen, mich sofort in das Wasser zu stürzen. Das Restaurant bietet nicht nur eine überschaubare Speisekarte an, sondern eine mindestens genauso lange Cocktailkarte. Und das bereits zur Mittagszeit. Die anderen Gäste sind alle von auswärts aus den verschiedensten Teilen Deutschlands und mit den Autos angereist.

Ich wandere weiter. Inzwischen ist es warm geworden und ich muss relativ häufig über Asphalt und Teer laufen. Der Belag ist inzwischen richtig warm geworden und ich spüre wie die warme Luft aufsteigt und mich grillt.

Kurz vor Dinkelsbühl geht es hoch auf eine Kuppe in das Dorf Segringen. Hier würde ich gerne in einem Gasthof unterkommen, den mein Bruder mir empfohlen hat. In dem Gasthof geht es geschäftig zu, es wird gerade eine Konfirmation gefeiert. Leider ist kein Zimmer mehr frei.

Direkt neben dem Gasthof ist ein Friedhof. Hier mache ich Rast. Interessant finde ich die einheitliche Gestaltung der Grabkreuze. Es erinnert mich an einen Soldatenfriedhof. Auf den Kreuzen stehen die letzten Berufe der Verstorbenen und wie alt sie in Jahren, Monaten und Tagen geworden sind. Es steht z.B. „Altsitzer“ oder „Altsitzerin“ auf den Kreuzen. Oder „Rentner“, „Bürokauffrau“ oder „Hausfrau“. Je nachdem wie alt der Mensch geworden ist, die letzte Station im Leben. Ich überlege, was auf meinem Grabkreuz stehen würde: „Privatier“, „Badmintontrainer“, „Gruppendynamiktrainier“, „Freiberufler coronabedingt ohne Arbeit“ oder „Wandernder Vater, der bloggt“? Haben die Verstorbenen selber entschieden, was auf den Kreuz geschrieben steht oder haben das dann die Hinterbliebenen beschlossen? Was würden meine Kinder in dem letzteren Fall schreiben lassen? Ein Glück, dass ich mit meinen Kindern schon vor meiner Wanderung gesprochen habe, wie ich mir aktuell meine Trauerfeier vorstelle und darin kommt kein Grabkreuz vor.

Von Segringen geht es weiter ins nahegelegene Dinkelsbühl mal wieder auf der Suche nach einer Unterkunft. Auch der zweite Tip meines Bruders schlägt leider fehl. Alles belegt. Dinkelsbühl ist heute voll mit Touristen. Nicht nur aus ganz Deutschland, sondern auch aus Europa. Ich kann Franzosen, Holländer, Italiener, Polen und auch Spanier ausmachen. In Dinkelsbühl ist noch viel mit Auto erreichbar, so dass ich viele Touristen mit ihren Fahrzeugen sehen kann. Radfahrer gibt es hier viel seltener.

Schließlich komme ich in einem Romantikhotel unter. Es kommt sogar noch besser. Die nette Dame am Empfang trägt mich für das hauseigne Schwimmbad und die Sauna ein für den Zeitraum von 20 bis 21 Uhr. Vor Corona bin ich zum letzten Mal in der Sauna gewesen. Ich freue mich schon jetzt auf Bad und Sauna.

Vorher gehe ich noch ein wenig in die Altstadt von Dinkelsbühl. Mir fällt die Metzgerei Mießmeier auf. Dort stehen 4 Tische zusammen, an denen mit 10-15 Personen und lauter Musik gefeiert wird. Stundenlang und unermüdlich. Brauchen die Menschen so sehr diese Ventile, um mit dem heutigen Druck der Leistungsgesellschaft umgehen zu können? Ist das der wahre Sinn von Ischgl, Mallorca, Ibiza, den Parties auf dem Opernplatz in Frankfurt oder dem Münchner Oktoberfest? Ein-, zweimal im Jahr oder im Monat richtig die Sau rauslassen und dann auf der Arbeit wieder Leistung zeigen? Die Feiernden jedenfalls machen weiter und singen lauthals jedes Lied mit. Mein Vater würde sagen, sie „schreien“, da die Musikalität eher zweitrangig dabei ist.

Später erfahre ich von einer Angestellten des Gasthofes, dass in Dinkelsbühl normalerweise in dieser Woche die Kinderzeche gefeiert wird. Die Kinderzeche in Dinkelsbühl ist ein Kinder- und Heimatfest. Der Sage nach sollen Dinkelsbühler Kinder im Dreißigjährigen Krieg die Stadt vor den Schweden gerettet haben. Seit 2016 befindet sich das Fest auf der Liste des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland. Dieses Jahr musste das Fest abgesagt werden. Die tapfer feiernden Menschen in der Metzgerei sind also das Coronaüberbleibsel dieses Volksfestes. Schade, das große Fest hätte ich gerne mitgefeiert.

Um 20 Uhr gehe ich in die Sauna. Ich bin alleine – mal wieder. Aber so kann ich ohne Textilien schwimmen und saunieren. Ich fühle mich nach Wochen wieder porentief rein. Das letzte Mal habe ich mich so sauber nach der Badewanne in Bad Mergentheim gefühlt. Meine Gymnastik mache ich auch seit langem und merke, dass sich die Beweglichkeit meiner Achillessehne verändert hat. Vielleicht sollte ich mein morgendliches Dehnungsprogramm um etwas für die Waden und Achillessehne erweitern.

In der Hohenlohe: Crailsheim – Jagststeig – Großhub

Heute morgen spüre ich, dass ich gestern lange unterwegs war. Meine Muskeln sind steif und ich fühle mich ungelenk, als ich loswandere. Ich laufe durch Crailsheim in nördlicher Richtung auf die Höhe. Gleich am Beginn des Weges kommt ein netter kleiner Aussichtsturm mit Blick auf Crailsheim und dem Wunschschild alles hier ordentlich wieder zu verlassen. Auf der anderen Seite des Turms sehe ich die Hinterlassenschaften einer gelungenen Party mit Blick auf Crailsheim. Der Platz ist zum Partymachen wie geschaffen. Der dabei entstandene Abfall hat es bis zur nahegelegenen Mülltonne wunschgemäß leider nicht mehr ganz geschafft.

Direkt im Anschluß kommt ein kleiner Vogel- und Tierpark. Eintritt für eine kleine Spende. Bis auf zwei Müttern und ihren Kleinkindern ist noch niemand zu Besuch. Cool finde ich die freilaufenden Pfaue. Mehrere Familien sind in diesem Park. Die Küken sind schon richtige Jungvögel und die Hähne haben es nicht mehr nötig, ihre Räder zu schlagen, da die Arbeit für diese Saison ja schon geleistet wurde.

Nach dem Park geht es auf einen beschatteten Höhenweg mit tollem Panorama auf Crailsheim. Der E8 läuft parallel zum Jagststeig. Die Crailsheimer Bürger haben den Weg zusätzlich aufgepeppt. Zuerst kommt als Zusatz ein Waldlehrpfad, der die verschiedenen Baumarten erklärt und zeigt. Dann kommt ein Sportpfad, der wie ein erweiterter und modernisierter Trimm-Dich-Pfad auf mich wirkt. Und als drittes ein toller Waldspielplatz, an dem ich Rast mache. Die Hohenloher haben wirklich das Tiptop-Land. Vom Aussichtsturm bis zum Waldspielplatz ein tolles Naherholungsgebiet für die Bürger. Wirklich beneidenswert!

Der Jagststeig führt auf die über 500 Meter hohe Schönebürg. Fast wäre ich dran vorbeigelaufen, da alles zugewachsen ist. Heute befindet sich auf der Schönebürg ein Denkmal für König Karl von Württemberg und einige Mammutbäume. Mammutbäume? Tatsächlich stehen zwei Mammutbäume auf dem Gipfel. Der eine ist allerdings schon abgebrochen. Besagter König hat anscheinend während seiner Zeit im 19. Jahrhundert, Mammutbäume aus Nordamerika eingeführt und hier gepflanzt in der Hoffnung, dass das auch mal solche Riesen werden. So drauf aufmerksam geworden, finde ich später tatsächlich immer wieder Mammutbäume in den anliegenden Wäldern.

Mammutbaum in der Hohenlohe

Es geht jetzt mehr oder weniger auf Waldpfaden durch den Wald. Leider stimmt meine Karte mit den E8 Wegmarkierungen nicht immer überein. Aber ich finde mich durch bis zum Ort Mistlauf. Durch den Ort hindurch, der seinem Namen Ehre macht und sehr stark nach Rindviechern riecht. Nach dem Ort links hoch in den Wald. Dort finde ich die ersten Waldhimbeeren. Sie sind klein, aber schmecken dafür sehr intensiv. Immer wieder sehe ich Eichelhäher, die alle im Wald mit ihren lauten Schreien warnen, dass ich jetzt gewandert komme.

Inzwischen ist es heiß geworden. Ich nähere mich meinem Tagesziel, den Ort Großhub. Dafür muss ich noch einen Hang hochsteigen, aber der Ort erschließt sich mir erst nach und nach. Erst sehe ich nur eine Kirchturmspitze (siehe Beitragsbild), dann die Kirche. dann einzelne Häuser und schließlich das ganze Dorf. Hier finde ich in einem Gasthof Unterkunft.

Nachdem ich mich frisch gemacht und ein bisschen erholt habe, gehe ich in den Gastraum, um etwas Warmes zum Essen zu bestellen. Der Gasthof wird gerne von Einheimischen genutzt. Einige Männer spielen Karten auf der Veranda.

Heute wird hier auch der 80. Geburtstag von Karl gefeiert. Seine ganze Familie und Verwandten sind gekommen. Beim Essen komme ich in den Genuss der Darbietung eines Lobgedichtes auf das Geburtstagskind. Immerhin 23 Verse gereimter hohenlohscher Dichtkunst unterstützt von einem Tusch mit einer Kistentrommel am Ende jeden Verses. Den Reim mit „Immer gibst Du uns Geld, dafür bist Du unser Held!“ in fränkischer Betonung werde ich so schnell in seiner Direktheit nicht vergessen. Anschließend wird gemeinsam auf „Opa“ Happy Birthday gesungen, einige singen auf „Karl“. Ob Karl sich über die Darbietungen freut, kann ich leider nicht erkennen. Um nichts zu verpassen, bestelle ich sogar noch einen Nachtisch. Als schließlich der Gedichtvorträger ankündigt, dass man schon für den 90. Geburtstag proben würde, guckt Karl ein wenig erschrocken.

In Hohenlohe: Reubach – Wallhausen – Jagsttal – Crailsheim

Heute morgen verabschieden mich meine Vermieter mit den Worten: „Und nach Reubach werden Sie wohl nie wieder kommen!“ Zuerst widerspreche ich mit dem Spruch, „Man sieht sich immer zweimal im Leben“. Aber als ich später darüber nachdenke, gebe ich ihnen recht. Wenn ich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum ersten und letzten Mal an diesen Orten auf dem E8 bin, dann möchte ich diese aber auch bewusst wahrnehmen in ihrer Vergänglichkeit und Einzigartigkeit.

Ich verlasse Reubach. Mir fällt auf, dass mich fast jeder im Dorf anspricht, nach meinem Weg fragt und Tipps gibt. Sie halten mich alle für einen Pilger auf dem Jakobsweg. Meine Vermieter hatten erzählt, dass dieses Jahr coronabedingt kaum Pilger unterwegs sind. Es scheint sich die Aufmerksamkeit auf die wenigen Pilger und Wanderer, die für Pilger gehalten werden, zu konzentrieren. Nach Reubach geht es schnell über die Felder und an Waldgebieten vorbei. Es hat immer wieder in der Nacht geregnet, aber jetzt ist das Wetter trocken und bewölkt.

Ich komme an großen Erdbeerfeldern vorbei. Es werden mit Hilfe von rumänischen Erntehelfern die Erdbeeren gepflückt. Es sind bestimmt 20 bis 25 Rumänen an der Arbeit. Sie haben Sonnenschirme und Wagen, so dass sie schneller arbeiten können. Ein Feld ist für Selbstpflücker. Hier lerne ich Elfriede und ihren Ehemann kennen. Elfriede hat die Aufsicht und ist nett zu mir. Sie schenkt mir ein Körbchen Erdbeeren, die ich alle gleich aufesse. Lecker, frisch vom Regen gewaschen, direkt vom Strauch gepflückt schmecken sie mir am besten. Klar, eine Portion Schlagsahne wäre noch besser, aber die gibt es am Feld nicht. Ich unterhalte mich ein bisschen mit Elfriede und ihrem Mann. Sie kommt aus Hohenlohe und hat schon als 14-Jährige bei der Erdbeerernte mitgeholfen. Inzwischen hat sie die Aufsicht und freut sich immer wieder die sieben Woche Erntezeit mitmachen zu dürfen.

Mich zieht es weiter. Nach den Erdbeerfeldern komme ich durch ein Waldstück, einer Mischung aus Fichtenwald und Birkenpionierwald. Dann wieder Strecke auf Landstraße, durch ein kleines Dorf durch und wieder Landstraße. Vor Wallhausen sehe ich eine Plantage mit roten Johannisbeersträuchern. Sowas habe ich bisher noch nicht gesehen. Die Johannisbeeren sind schon fast reif.

In Wallhausen gehe ich eine Gastwirtschaft. Das Hauptgericht und Getränk kosten nur 10 Euro. Ich staune. Bekomme ich jetzt schon Pilgerrabatt nach meinem Aussehen? Obwohl andere Preise auf der Karten stehen, bekomme ich einen Spezialpreis. Hohenlohe ist gut zu seinen Pilgern.

Ich verlasse Wallhausen und komme an Getreidefeldern vorbei. Die Klosterruine, Anhausen die mitten auf einem Feld steht, erregt meine Aufmerksamkeit. Bevor ich ankomme, fliegen zwei rote Milane von der Ruine weg. Dieser Monolith wirkt hier total fremd und wie ein antikes Kunstwerk. Quasi ein Klostertorso. Oder ein moderner Künstler hat hier ein Landschaftskunstwerk kreiert. Danach geht es in den Wald. Hier ist es sehr dicht, fast schon urwaldmässig. Später Landstraße und durch ein Dorf. Ein Dorf in dem es einen sehr schönen Garten gibt, der mich an das Hochbeet in Bad Kreuznach erinnert. Wenn das meine Tante hier sehen könnte!

Von dort aus geht es in das Tal der Jagst. Der Teil des Flusses steht hier unter Naturschutz. Der Fluß ist nicht besonders schnell, so daß sogar Seerosen darin wachsen können. Der Pfad flußaufwärts ist sehr schmal, aber auch schön: Moosbewachsene Steine und Bäume und immer wieder die Jagst, auf der Enten schwimmen oder Reiher stehen. Manchmal witscht eine Eidechse direkt vor mir in das Wasser. Die sind ganz schön groß hier. Ob das vielleicht schon die ersten Zwergkrokodile sind, die aufgrund der Klimaerwärmung es hier schön finden? Das Jagsttal ist eine echte Empfehlung für alle, die solche Naturgewässer lieben.

Es geht immer mal wieder aus dem Jagsttal raus. Mal an einem Steinbruch vorbei, mal durch ein Dorf. In dem Dorf Neidenfels begegnet mir ein altes Ehepaar, die ein paar Äpfel gepflückt haben. Beide sind sehr an mir und meiner Wanderung interessiert und dabei hellwach. Es stellt sich heraus, dass beide schon über 90 Jahre alt sind. Beim Spazierengehen halten sie Händchen. Ich muß an eine ehemalige Kollegin denken, die sich genauso eine loyale und liebevolle Partnerschaft für ihr Alter wünscht. Die alte Frau fragt mich, wie ich es schaffe, so lange auf meiner Wanderung alleine zu sein. Ich wundere mich auch ein bisschen über mich selbst, das ist auf der Wanderung bisher überhaupt kein Problem. Früher hätte mich das wahnsinnig gemacht und meine Erfahrungen mit Alleinsein, als ich z.B. mit 19 Jahren ein einsames Forsthaus 2 Wochen lang gehütet hatte, waren sehr schlecht gewesen. Vielleicht liegt es jetzt an meiner digitalen Erreichbarkeit, das es mir nichts ausmacht, alleine zu wandern. Ich fühle mich nicht alleine. Jederzeit könnte ich jemanden anrufen oder ich werde angerufen.

Spät am Abend erreiche ich Crailsheim.

Vom Taubertal nach Hohenlohe: Oberhöchstädt – Rothenburg ob der Tauber – Bettenfeld – Hausen – Reubach

Heute morgen bringt mich mein ehemaliger Schwager zum Bahnhof nach Neustadt an der Aisch. Von dort aus fahre ich mit der Westfrankenbahn nach Rothenburg ob der Tauber, um wieder auf den E8 zu gelangen. Nach drei Tagen warmer familiärer Umgebung, muss ich mich erst an das kühle und bewölkte Klima gewöhnen. 

In Rothenburg sind heute nicht so viele Touristen wie bei meinem letzten Besuch. Einige Teile der mittelalterlichen Stadt sind sogar touristenfrei. Viele Läden und Cafés im Zentrum der Altstadt öffnen erst ab 10 Uhr oder sogar noch später. Die Cafehausdichte um dem Marktplatz herum finde ich beeindruckend. Fast jedes Haus ist ein Café oder Restaurant.  Die Altstadt ist wirklich sehenswert. Es gibt sogar ein mittelalterliches Kriminalmuseum. 

Ich verlasse die Stadt ganz angemessen durch eines seiner alten Tore und überquere eine Landstraße, um dann sofort in das Tal der Schandtauber hinunterzusteigen. Schon nach 300 oder 400 Metern höre ich die Stadt und die Straße nicht mehr. Die Schandtauber ist ein idyllischer Bach, der in die Tauber mündet. Es hat inzwischen leicht das Regnen angefangen. Das Grün leuchtet dunkel und frisch zugleich. Ich folge dem Bachlauf aufwärts. Immer wieder erläutern Schilder, welche baulichen Maßnahmen früher unternommen wurden, um dem Bach passierbar bzw. bewirtschaftbar zu machen. Nach neun solcher Stationen geht es aus dem Bachtal hinauf auf den Bergrücken entlang von Mais- und Weizenfeldern. Das feuchte Wetter der letzten Tage hat dem Mais gut getan. Er steht inzwischen mannshoch und leuchtet hellgrün frisch.

Ich fühle mich ausgeruht und frisch und wandere schneller als sonst. So schnell, dass ich sogar eine holländische Familie überhole. Ansonsten begegne ich keiner Menschenseele. Es geht wieder in das Bachtal runter und ich komme an zwei Mühlen vorbei. Kein Netzempfang. Ansonsten muss es sehr schön sein hier zu wohnen. Ich werde an meinem Professor in den Vogesen erinnert, der auch in einem alten Haus mit großem Garten mitten im Wald lebt. 

Ich verlasse das Tal der Schandtauber und komme nach Bettenfeld gerade rechtzeitig zur Mittagszeit. In Bettenfeld gibt es ein Gasthaus mit eigener Schlachtung. Es sind überraschend viele Gäste da. Ich bekomme trotzdem noch einen Tisch. Die Essensportion ist riesig und schmeckt richtig gut. Kein Wunder, dass dort so viele Gäste einkehren. Viele sind offenbar regelmässig ein oder zweimal in der Woche zu Gast. Die Preise sind sehr moderat.

Nach dem Mittagessen geht es auf der Landstraße weiter. Die E8 Markierungen hören nach Bettenfeld leider auf und ich richte mich nach dem Jakobswegzeichen. Das Gehen auf der Landstraße macht mich mürbe und müde. Ich komme an einem großen Steinbruch vorbei. Es regnet inzwischen stärker und ich ziehe meine Regenkleidung über. Es wird merklich kühler. Ich merke, dass ich nicht mehr so rund laufe. Vielleicht bin ich den heutigen Tag doch zu flott angegangen. Ich beschließe die nächste Möglichkeit einer Herberge zu nutzen. Ein paar Telefonate und Empfehlungen später, habe ich eine Unterkunft. Allerdings war der Empfang schlecht und ich werde mir immer unsicherer, wie die Adresse wirklich gelautet hat. 

Ich biege nach M… rechts von der Landstraße ab auf einen Feldweg und komme wieder durch Wald. Ein junger Wald mit vielen Birken. Es ist richtig dunkel geworden, obwohl es noch Nachmittag ist. Im Wald ist alles dunkel. Das Laub leuchtet schwarzgrün und glänzend. Es riecht gut nach Erde. Keine Insekten fliegen. Ich kann wieder Wild beobachten, dass ohne Scheu mich in nächster Nähe passiert. Eine Ricke mit ihrem Kitz. Zwei Feldhasen. Ein Paar von Buntspechten. Es wirkt alles ein bisschen unwirklich und irreal. 

Mir fällt wieder der Begriff Bilderbuchlandschaft ein und ich überlege mir, ob es zu der Bilderbuchlandschaft auch Bilderbuchmenschen gibt. Frei nach dem Motto, dass die Landschaft auch den Charakter oder die Persönlichkeit der dort lebenden Menschen beeinflußt und formt. 

Meine Beine werden immer müder und fangen an zu schmerzen. Ich hoffe, dass im nächsten Ort die telefonisch reservierte Ferienwohnung von Frau Schmidt ist. Bei dem Namen des Ortes bin ich mir inzwischen total unsicher, wie er wirklich heißt. Die Vorwahl der Telefonnummer ist keine echte Hilfe, da diese für alle Ortschaften in Hohenlohe anscheinend dieselbe ist. 

Ich komme nach Hausen und versuche mich an die Wegbeschreibung zu erinnern. Die Hauptstraße Nummer 21… Ich komme an der zentralen Bushaltestelle vorbei und bleibe stehen, um weitere Indizien zu finden, wo vielleicht die Hauptstraße sein könnte. Irgendwie muss ich dabei ein sehr hilfebedürftiges Gesicht machen. 

Denn auf einmal hält ein kleiner Bus neben mir. Der Busfahrer grüßt mich und fragt, ob er mir helfen kann. Ich erläutere ihm meine Situation und meine Suche. Er bietet spontan seine Hilfe an und zeigt auf das Haus, vor dem wir stehen. „Hier wohnt der ehemalige Postbote von Hausen, der kennt jeden!“. Er steigt aus dem Bus und klingelt. Der ehemalige Postbote öffnet die Türe und nennt uns tatsächlich die Adresse einer Frau Schmidt, die eventuell Ferienwohnungen vermietet. Sonst würde es auch keine weiteren Schmidts in Hausen geben. 

Der Busfahrer bietet mir sogar an, mich hinzufahren. Supi! Leider stellt es sich heraus, dass diese Familie Schmidt nicht die richtige ist. Auch gibt es noch weitere Schmidts in Hausen, die leider auch nicht die richtigen sind. Einmal finde ich nicht die Türklingel und – optimistisch wie ich nun mal bin – rufe an mit den Worten, dass ich jetzt vor der Türe stehen würde. Leider ist es das falsche Haus und wieder die falsche Familie Schmidt. 

Aber ich verstehe diesmal den Namen des Ortsteiles – oder besser gesagt des Dorfes – besser. Ich bin im falschen Dorf! Mein Busfahrer hat inzwischen jemanden auf der Straße angehalten und die Fahrerin gefragt, wie weit es dahin noch zu Fuß sei. Über eine Stunde! Ah! Es regnet und es ist kalt und ich habe heute keine große Lust mehr weit zu laufen. 

Der Busfahrer erlöst mich von der Frage, wielange ich heute noch durch den Regen laufen muss. Er fährt mich einfach die ganze Strecke hin. Auf der Fahrt erzählt er mir, dass er seit 30 Jahren die Kindergarten- und Schulkinder der Ortschaften hier einsammelt und zur Schule bzw. Kindergarten fährt. Er kennt sie alle. Er sammelt sogar die Monatsausweise mit Bild der Kinder. Wenn sie dann erwachsen sind und heiraten, schenkt er ihnen die gesammelten Ausweise. Die Beschenkten sind dann immer sehr gerührt. Es ist dann ja wie ein 10 bis 15-jähriges Daumenkino mit den eigenen Passfotos. Im Handumdrehen sind wir in Reubach und diesmal bei der richtigen Familie Schmidt. Ich bedanke mich herzlich bei dem Busfahrer und wir verabschieden uns voneinander mit Handschlag.

Menschenfreundlicher Busfahrer in Hohenlohe

Frau Schmidt hat schon auf mich gewartet und kommt sofort aus dem Haus um mir die Ferienwohnung zu zeigen. Diese ist sehr groß. Frau Schmidt kocht mir erst einmal einen heißen Kaffee und erzählt mir dann, dass die Wohnung früher der Edekaladen des Ortes gewesen sei, den sie und ihr Mann geführt hatten. Sie freut sich über jeden Wanderer, den sie hier aufnehmen dürfen und bedauert, dass sie für mich keinen Kuchen gebacken hat. Ich freue mich auch, dass ich so eine tolle Unterkunft habe. Waren am Anfang meiner Wanderung die Gasthöfe oft wegen Corona geschlossen, ist es jetzt anders. Jetzt sind viele Gasthöfe und Ferienwohnungen belegt wegen den Sommerferien und es nicht leicht für mich, etwas zu finden. 

Heute mache ich die Erfahrung, dass einem Wanderer in Hohenlohe geholfen wird. Diese Bilderbuchlandschaft hat auch Bilderbuchmenschen.

Im Aischgrund: Marktbergel – Burgbernheim – Bad Windsheim

Heute morgen fühle ich mich schlapp, obwohl ich lange geschlafen habe. Ich ändere meinen ursprünglichen Plan und gehe nicht zurück auf die Frankenhöhe, sondern bleibe im Aischgrund. Ich wandere entlang der Landstraße zum nahegelegenen Burgbernheim. Hier suche ich mir ein Zimmer und lasse dort meinen Rucksack zurück. Das nächste Ziel ist Bad Windsheim. Dort angekommen schaue ich mir den Kurpark und die Altstadt an. Bad Windsheim war bestimmt früher eine bedeutende Stadt in der Region gewesen. Die alten, gut restaurierten Gebäude zeugen noch davon. Inzwischen ist die Stadt vor allen Dingen für ihren international bekannten Knabenchor bekannt und als Ausflugsziel für Großstädtern aus dem Raum Nürnberg – Fürth. Ich treffe heute auf viele Sonntagsausflügler. An ihren fränkischen Dialekt erkenne ich die Herkunft. Die Tristesse der fränkischen Provinz umfängt mich. Ich fühle mich weiter müde und schlapp. Schließlich kaufe ich mir eine Zeitung und setze mich in den Kurpark und lese.

Am Abend bin ich wieder im Gasthof in Burgbernheim. Der Blick aus meinem Fenster verstärkt bei mir den Eindruck der Provinzialität: ein Schwarm Tauben hat es sich auf dem Nachbardach gemütlich gemacht und im Hinterhof stehen drei Autowracks.

Das Abendessen im Gasthof ist bodenständig gut, reichlich bemessen und hat sogar den gewissen Pfiff. Am Nachbartisch ist der versammelte Stammtisch, die das letzte Relegationsspiel des Nürnberger Fußballklubs bei einem Glas Bier lautstark diskutieren.

So ist es auf dem Land in Franken halt.

Morgen werde ich nach Oberhöchstadt reisen und mich mit meinem jüngsten Sohn treffen. Dann bin ich hoffentlich wieder fitter.

Auf der Frankenhöhe: Wachsenberg – Windelsbach – Hornau – Marktbergel

Heute Nacht hat es stark geregnet. Als ich loslaufe ist es bewölkt, frisch und die Luft ist klar. Nach gestern eine echte Wohltat. Zuerst geht es parallel zur A7. Ich kann die Autobahn nicht sehen, aber das Hintergrundgeräusch begleitet mich eine Zeitlang.

Ich bewege mich auf einem breiten Berg: der Frankenhöhe. Es geht schnurgerade durch den Wald und ich kann den Weg relativ weit voraussehen. Es kommen immer wieder Radfahrer vorbei.

Weg auf der Frankenhöhe

Aber auf einmal sehe ich am Ende des erkennbaren Weges eine Gestalt auf mich zukommen. Zuerst noch klein und dann immer größer werdend. Schon bald kann ich die Gestalt erkennen: ein Weitwanderer kommt mir entgegen. Leicht zu erkennen an einem großen Rucksack, der Isomatte und einer Art Laken oder Handtuch, das zum Trocknen am Rucksack gebunden ist. Er ist der erste einzelne Weitwanderer, der mir auf meiner Tour begegnet. Ich begrüße ihn und wir tauschen uns kurz über Ziel und mögliche Unterkünfte aus. Er kommt ursprünglich aus Berlin und hat einen Familienurlaub in Franken genutzt, um von dort aus wandern zu gehen. Sicher ist er sich über sein Wanderziel noch nicht. Er verabschiedet sich auch relativ schnell wieder von mir. Er möchte gerne alleine sein und weiterwandern.

Als ich den Ort Windelsbach erreiche, kann ich die Autobahn nicht mehr hören. In Windelsbach gibt es ein erstaunlich großes Schloß für die kleine Größe des Dorfes. Mein verstorbener Schwiegervater hat immer gesagt: „Wo es große Schlösser gibt, gibt es nur arme Bauern.“ Hier scheint das nicht zu stimmen. Die anderen Häuser im Dorf sind auch sehr groß und sehen sehr gut aus. Immer wieder komme ich an kleinen Teichen und Seen vorbei. Beim Verlassen von Windelsbach komme ich an einem größeren See vorbei.

Schloß Windelsbach

Von oben auf der Frankenhöhe habe ich einen sehr weiten Panoramablick, der leider immer wieder von einzelnen Bäume gestört wird (siehe Beitragsbild).

Nach der Frankenhöhe geht es steil runter ins Tal der Aisch nach Marktbergel, wo ich Unterkunft finde. Auf dem Weg runter finde ich kurioserweise frische Hähnchenschenkel. Wer die da bloß hingelegt hat? Und wozu?

Hähnchenschenkel am Roten-Flieger-Weg

Vom Taubertal ins Frankenland: Schonach – Rothenburg ob der Tauber – Wachsenberg

Als ich Schonach verlasse und die Straße vor mir sehe, muss ich – wie fast jeden Morgen – an das Lied „That Lonesome Road“ von James Taylor denken. Dann summe ich oder singe es teilweise so 500 bis 600 Meter weit.

Heute vormittag laufe ich an der Wetterscheide entlang in Richtung Südosten. Links von mir kann ich eine geschlossene Wolkendecke sehen, rechts von mir ist es sonnig und leicht bewölkt. Es geht wieder durch kleine landwirtschaftlich geprägte Ortschaften, Felder, Streuobstwiesen und kleinere Waldstücke. Inzwischen ist es leicht hügelig geworden, kein Vergleich mit den Höhenunterschieden wie im Spessart oder Odenwald, es wird immer flacher. Nur wenn ich in das Taubertal absteigen und danach wieder aufsteigen muss, habe ich eine nennenswerte Steigung. Ich komme gut voran. Mittags mache ich Rast an einer Bank mit schöner Aussicht ins Taubertal. Ich bin auf der sonnigen Seite, aber heute weht ein sehr kräftiger, ja fast stürmischer Wind, so macht mir die Hitze nichts aus.

Blick ins Taubertal

Ich nähere mich Rothenburg ob der Tauber. Zuerst durch ein neues Wohngebiet, dann stehe ich vor der alten Stadtmauer. An dieser Stelle wurde eine Kirche als Teil der Stadtmauer gebaut. Ich gehe durch den Torbogen in die Stadt. Rothenburg ist eine sehr gut erhaltene mittelalterliche Stadt und dafür weltweit sehr bekannt.

Kirche als Teil der Stadtbestigungsanlage

Ich begegne vielen Touristen und sehe zum ersten Mal seit Corona wieder asiatische Besucher, wie z.B. Indern. Kurz überlege ich, ob das schon Touristen aus den Herkunftsländern sind oder ob es sich um welche handelt, die in Europa leben und arbeiten. Wahrscheinlich eher letztere.

Ich merke, dass ich so viele Touristen nicht mehr gewöhnt bin. Vor 40 Jahren hatte ich mal per Zufall Rothenburg besucht. Das war damals alles noch sehr beschaulich gewesen und wir waren fast alleine als Fremde in der Stadt. Inzwischen ist die Stadt eine einzige große Touristenfalle geworden. Dort sind die Gläser in den Gastwirtschaften kleiner als sonst in Franken üblich, dafür dann aber doppelt so teuer. Das Stück Torte, das ich mir kaufe, ist von der Größe her eher ein Probierstück. Es schmeckt gut, aber in Bad Kreuznach schmeckt die Torte auch sehr gut, dafür sind die Stücke aber doppelt so groß.

In einem schönen Café am Marktplatz lerne ich eine sehr sympathische holländische Familie aus Delft kennen. Sie machen eine Woche Urlaub in Deutschland. Drei Tage in Rotenburg und Umgebung, um die Romantik zu finden, und drei Tage im Schwarzwald, um wahrscheinlich die Ruhe zu bekommen. Die holländische Familie ist voller angefachter Konsumfreude, wie unsere heimische Wirtschaft bestimmt schon festgestellt hat. Heute sind sie u.a. einem begabten Trachtenverkäufer in die Hände gefallen. Zuerst hat er die 18 Monate alte Tochter eingekleidet. Sie sieht wirklich supersüß damit aus! Als nächstes war dann die Mutter dran. Auch sie ist im Dirndl ein echter Hingucker! Last man Standing war der Vater, der sich schließlich auch seinem Schicksal ergab. Eine Lederhose aus feinstem und weichem Ziegenleder und ein weißblaues Hemd sind das Ergebnis. Ob er damit auch so fantastisch aussieht wie seine weiblichen Familienmitglieder, kann ich leider nicht feststellen. Er hat beide Kleidungsstücke nicht angezogen und diese in einer Einkaufstüte dabei, die er mir dann auch zeigt.

In einem Café in Rothenburg

Ich fliehe aus Rothenburg durch das Galgentor. Hier verlasse ich den E8 für ein paar Tage und wechsele auf den Roten-Flieger-Weg. Dieser Weg wird mich nach Neustadt an der Aisch führen. In einem kleinen Dorf in diesem Landkreis werde ich am Montag meinen jüngsten Sohn treffen und ein oder zwei Tage mit ihm verbringen. Mein Sohn hilft seinem Onkel in der Landwirtschaft für eine Woche.

Nach dem Galgentor beginnt wieder die neuere Stadt. Ich folge der Straße geradeaus. Die Häuser entlang der Straße werden schnell einfacher und kleiner. Bald bin ich auf einem Weg, der durch Felder führt bis zur Autobahn A7. Dabei komme ich an der europäischen Wasserscheide vorbei.

Europäische Wasserscheide

Nach einer Unterführung gelange ich zum Ort Neusitz. In einer Gastwirtschaft bekomme ich etwas zu Essen und kann dabei mithören, wie der Wirt mit einem jungen Mann bespricht, wie seine Zimmer neu eingerichtet werden sollen. Endlich mal ein Gastronom der den gesenkten Mehrwertsteuersatz zur Ankurbelung der heimischen Wirtschaft zu nutzen weiß.

Von Neusitz aus geht es noch einmal die Anhöhe hoch nach Wachsenberg. Dort finde ich Quartier für die Nacht. Entfernt kann ich die A7 hören. Ansonsten ist der kleine Ort sehr idyllisch gelegen mitten im Wald. Ich bin der einzige Gast.

Im Taubertal: Creglingen – Schonach

Heute Nacht um 2:40 Uhr werde ich von einer blutsaugenden Mücke geweckt.

Heute Morgen um 5:45 Uhr gelingt es mir – nach vielen vergeblichen Versuchen – diese blutsaugende Mücke mit einem nassen weißen Handtuch zu erschlagen.

Ich bin sehr müde und schlafe nach dieser Heldentat ein.

Heute Morgen um 5:50 Uhr werde ich von drei eifrigen Radlern geweckt, die es so eilig haben auf die Piste zu kommen, daß sie sogar auf Frühstück verzichten.

Ich bin sehr müde und schlafe nach dem Weggang der drei Radler ein.

Heute Morgen um 6:00 Uhr werde ich von den Kirchenglocken geweckt. Wieso so früh? Warum jeder Glockenschlag doppelt? Warum so laut?

Ich bin sehr müde und schlafe glücklich um 6:05 Uhr ein.

Wach werde ich erst wieder um 9 Uhr, ein bisschen später als ich beabsichtigt habe. Beim Frühstück bin ich der vorletzte Gast heute. Der letzte Gast ist ein Jäger, mit dem ich ins Gespräch komme. Er rät mir bei den streunenden Hunden in Rumänien zu Pfefferspray und Haselnussstecken mit Klinge an einem Ende. Bei Wildschweinen soll ich ruhig stehen bleiben und laut mit ihnen reden. Wildschweine seien so intelligent, dass sie einen menschlichen Spaziergänger von einem menschlichen Jäger unterscheiden können. Letztere tragen in so einem Begegnungsfall am liebsten Carbongeschützte Beinkleider, da die Wildschweine mit ihren Hauer tiefe Schnittwunden verüben können.

Gestärkt mit diesem Wissen starte ich in den neuen Wandertag. Kurz nach Creglingen mache ich einen Abstecher in das Fingerhutmuseum, das in einem Keller liegt. Das Museum ist vielleicht doppelt so groß wie mein Zimmer in Bad Kreuznach. Größer muss es aber auch gar nicht sein. Die ausgestellten Fingerhüte aus vielen verschiedenen Ländern und Epochen sind sehr klein und allerliebst. Es gab eine Zeit, da wurden 80% der Rohfingerhüte hier in der Gegend hergestellt und dann weltweit exportiert, wo die Fingerhüte regional noch veredelt wurden. Man kann auch heute noch sehr besondere Fingerhüte in diesem Museum erwerben, das zur Fabrik gehört. Es ist anscheinend auch gar nicht so einfach einen passenden Fingerhut zu finden.

Im Fingerhutmuseum

Danach besuche ich die Herrgottskirche. Hier ist ein Tilmann-Riemenschneider-Altar die Attraktion. Er ist vollkommen aus Birnenholz geschnitten und alles wirkt sehr plastisch und lebendig. Mich beeindruckt auch, dass es sich der Künstler verkniffen hat, die Figuren – wie die Maria oder den Jesus – anzumalen. So spricht das Material für sich. Das finde ich wunderschön in seiner Reduktion rein auf die Formen und den Aufbau.

Tillman-Riemenschneider-Altar

Danach geht es den Mühlbach entlang weiter. Ich befinde mich wieder im idyllischen Bilderbuchdeutschland. Nach einiger Zeit komme ich durch den Ort Münster. Es ist inzwischen warm geworden. Ich werde auf die Münsterseen aufmerksam gemacht. Da kann ich nicht widerstehen. Wieder mache ich einen Abstecher und gehe zum Badesee. Es ist schon wieder alles tiptop! Es gibt sogar verschiedene Einstiegsleitern, Umkleidekabinen, terrassierte beschattete Liegenflächen, eine Absperrung für Nichtschwimmer, usw. Es liegt kein Abfall rum und die Krönung ist, es gibt sogar direkt neben dem See eine Kneippanlage. Schwäbisch Perfektion der Umgestaltung eines Naturwassers zu einem Badesee.

Einstieg in den Badesee auf schwäbisch

Ich steige über eine der Leiter in den See. Herrlich kalt! Ich schwimme 10 Minuten lang und drehe mich auf den Rücken und lasse mich dann einfach treiben. Mein Körperfett trägt mich auf dem Wasser ohne dass ich mich bewegen muss. Die warme Sonne scheint mir auf den Bauch, das Wasser kühlt den Rücken, ich schließe die Augen. Das ist pure Entspannung!

Nach der Badepause nehme ich den „Barfußpfad“ direkt durch den Wald und gelange wieder auf den E8. Es geht wieder durch Wald, Felder und kleinere Ortschaften. In einem Waldstück habe ich Glück und entdecke eine Spinne mit ihrem Nest und vielen kleinen geschlüpften Babyspinnen! Ich bin fasziniert, dass so ein Schatz der Natur einfach am Wegesrand steht.

Inzwischen ist es heiß geworden. Ich merke, dass ich letzte Nacht nicht viel geschlafen habe und mein rechter Fuß schmerzt. Ich beschließe heute nicht so weit zu wandern, Rothenburg ob der Tauber kann ich mir auch morgen noch angucken. In Finsterlohr frage ich vergeblich nach einer Unterkunft. Aber schon einen Ort weiter in Schonach finde ich eine Herberge mit einem tollen Biergarten.

Selbstbedienung-Biergarten in Schonach in Coronazeiten

Im Taubertal: Bad Mergentheim – Weikersheim – Creglingen

Ich verlasse heute morgen Bad Mergentheim an der Tauber entlang und dann durch den Kurpark nach Igersheim. Dabei komme ich an einem Parkplatz für Wohnmobile vorbei. Es ist wieder alles tiptop eingerichtet. Kein Wunder, dass die Kurtaxe pro Tag in Bad Mergentheim mehr als 5 Euro gekostet hat. Der Wanderweg führt zwischen Tauber und Bahngleisen lang, Hier fährt die Westfrankenbahn, die ich schon in Kleinheubach gesehen habe.

In Igersheim geht es von der Tauber weg und wieder auf den Höhenwanderweg. Achtung! Die Karten und Wegweiser sind an der Stelle veraltet, an der man eine Landstraße überqueren muss. Nur eine Querstraße weiter führt eine kleine Fußgängerbrücke über die Straße. Ein aufmerksamer Bürger hilft sie mir zu finden.

Von dort ab geht es weiter durch den Ort nach oben. Heute vormittag ist perfektes Wanderwetter: bewölkt und nicht zu warm. Es ist wieder die idyllische Abwechslung zwischen Wald und Feldern und dem auf und ab.

Einmal werde ich von einem rüstigen Wandererpaar überholt. Zuerst höre ich eine Maschinenstimme. Ich drehe mich um und sehe ein älteres Paar. Er trägt Sandalen und einen leichten Rucksack. Beide tragen dunkle und funktionale Wanderkleidung. Sie werden auf meinen Rucksack aufmerksam und sprechen mich an. Auf die Frage nach dem Wohin antworte ich heute „Schwarzes Meer“. Manchmal antworte ich „nach Osten“ oder „nach Wien“. Die Antwort mit dem Meer erzeugt immer die meisten Nachfragen. Die Frau fragt sofort nach. Nach drei, vier Fragen aber ziehen die beiden leichtfüssig weiter.

Der nächste Ort ist Weikersheim. Von der Höhe aus hat man einen tollen Blick auf die Stadt und das Tal. Die Stadt hat einen gut erhaltenen alten Kern. Inzwischen ist die Stadt aber stark gewachsen und ich kann gut große Gewerbegebiete sehen und Neubaugebiete für Wohnungen.

Weikersheim von der Anhöhe aus gesehen

Zu Weikersheim gehört ein großes und gut erhaltenes Schloß mit Park. Im Vergleich zum historischen Teil der Stadt, wirkt das Schloß überproportional groß gemessen an Raum, Höhe, Material und Ausstattung. Der Fürst hat damals anscheinend feudal und repräsentativ gelebt. Vor dem Schloßeingang ist der Marktplatz, um dem sich Restaurants, Hotels und Cafés reihen.

Hier esse ich zu Mittag, das schlechteste bisher auf meiner Reise. Dort treffe ich auch das Paar wieder, das ein Glas Wein trinkt. Als ich mit dem Essen fertig bin (es ging relativ schnell wegen der Qualität), spricht mich die Frau an. Sie hatte sich vorhin geärgert, dass sie so schnell weitergegangen seien, weil sie hätte noch so viele Fragen gehabt. Ich lade sie und ihren Mann ein, Platz zu nehmen. Ich bin neugierig geworden, was ihr Anlass für die zweite Befragung ist. Sie fragt viele technische Dinge, nach Ausführung und Dauer meiner Wanderung und andrer längerer Wandertouren, die ich schon unternommen hatte. Irgendwann meine ich zu verstehen, dass sie sich selber wünscht, so eine Reise zu unternehmen. Ich spreche die beiden darauf an. Ihre Reaktion finde ich spannend. Er fängt sofort an, einen Vortrag zu halten, wie schwierig es sei, die allgemeinen gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen zu verlassen um das individuelle und singuläre zu tun. Sie macht auf mich einen schon fast erschrockenen Eindruck bei dem Gedanken, so eine Wanderung selbst zu unternehmen.

Ich wechsle das Thema und frage nach der Maschinenstimme und den Sandalen. Er zeigt mir bereitwillig eine App, mit der die beiden den HW3 wandern, rein nach Stimme und so auch noch Strom sparen. Der Mann ist so gut zu Fuß, dass er gut mit Sandalen zurecht kommt. Er verweist mich auch auf die Sherpas im Himalaya, die mit noch viel schlechterem Schuhwerk unterwegs sind.

Wir sind uns einig, dass kaum noch jemand hier wandert und es inzwischen viel mehr Radfahrer gibt. Ich mache sie darauf aufmerksam, dass sie ja damit schon den breiten Pfad der Allgemeinheit verlassen haben und bestimmt auch den nächsten Schritt einer Fernwanderung wagen können. Die Frau wirkt nachdenklich auf mich als wir uns voneinander verabschieden.

Ich schaue mir das Schloß an und ziehe dann weiter. Inzwischen hat es das Regnen angefangen. Außerhalb der Stadt ist es wieder sehr ruhig. Ich komme an einem Jagdpark mit Schloß vorbei, den sich die Fürstenfamilie 200 Jahre lang gegönnt hat. Ich denke an die Steuern und Abgaben, die die Weikersheimer dafür leisten mussten.

Ich wandere durch Felder und dabei fallen mir sehr breite Blühstreifen auf. Nein, nicht nur Streifen, das sind schon richtige Blühfelder von blauen Blumen, quasi eine riesige Nektartankstelle für Insekten. Und wie an einer Tankstelle in Luxemburg ist auch voll Betrieb und das ganze Feld summt und brummt.

Blühfeld im Taubertal

Es wird allmählich Abend und im nächsten Ort suche ich nach einer Unterkunft. Ein Waldschwimmbad ist vorhanden, das mich optimistisch stimmt hier fündig zu werden. Beim ersten Ferienbauernhof werde ich zum nächsten geschickt. Beim zweiten stürmt als erstes ein großer, schwarzer Hund auf mich zu. Ich kriege erst einmal einen Schrecken. Aber der Hund ist freundlich, genauso wie die Familie, die hinter ihm herkommt. Aber leider ist auch hier alles ausgebucht. Die Chefin Frau Andrea Seeber macht mir spontan das großzügige Angebot, falls ich nichts finden sollte und auch der Bus nicht mehr kommt, mich in das nahegelegene Creglingen zu fahren. Einen Ferienhof später, der auch ausgebucht ist, und eine Erkenntnis weiser, dass die Busse hier nur auf vorheriger telefonischer Anmeldung kommen, nehme ich ihr Angebot an. Dabei gucken mich ihre jugendlichen Kinder so interessiert an, dass ich vermute, dass mein Aussehen inzwischen schon richtig seltsam sein muss.

Frau Seeber und ich unterhalten uns auf der Fahrt gut und sie wünscht mir viel Glück auf der weiteren Reise. Sie kennt sogar Bad Kreuznach, da dort eine Polsterin arbeitet wie sie es auch tut.

Creglingen ist nicht sehr groß. Ich finde eine Liste der Unterkunftsmöglichkeiten. Ich habe Glück und bekomme das letzte Zimmer im Gasthof. Die Wirtin erzählt mir, dass sie eigentlich schon das „Belegt“-Zeichen raushängen wollte, aber geschwind noch was tun wollte. Zehn Minuten später und ich wäre umsonst gekommen.

Später im Zimmre stelle ich fest, dass ich mir nach 21 Tagen tatsächlich zum ersten Mal eine Blase gelaufen habe.

Im Taubertal: Lauda – Beckstein – Bad Mergentheim

Am Morgen gehe ich von Lauda wieder auf den E8. Ich komme dabei an dem Freibad der Stadt vorbei, das coronabedingt geschlossen ist. In Hessen sind die Freibäder geöffnet und gut besucht. In Baden-Württemberg anscheinend nicht. Schade, ich wäre gerne schwimmen gegangen und das Freibad sieht sehr einladend aus.

Nach dem Freibad geht es steil nach oben. Aus dem Tal auf die Höhe und danach wieder ins Tal. Die Berge sind hier flacher und es gibt keine große zusammenhängenden Waldgebiete wie im Odenwald oder Spessart. Es wechseln sich Äcker, Wiesen, kleine Waldgebiete, Weingärten und Dörfer ab. Hier verläuft der E8 mit der Romantischen Straße parallel. Es ist wirklich idyllisch hier, eine echt abwechslungsreiche Bilderbuchlandschaft.

Der nächste Ort ist Beckstein. Hier begegne ich der Perfektion! Die schwäbische Manifestation der perfekten Wegbeschilderung (siehe Beitragsbild). Verschieden skalierte Überblickskarten, alle Wegmöglichkeiten werden aufgezeigt, Sitzgelegenheiten mit rundem Tischen der Mitte und eine Rastmöglichkeit, die im Schatten liegt. Alles picobello und tiptop. Diese Wegbeschilderung mitten im Ort bekommt von mir den ersten Preis.

Im selben Ort lerne ich noch einen netten Mann kennen, der gerade seinen Kirschbaum leer pflückt und danach gleich schneidet. Auch der Kirschbaum ist tiptop und die angebotenen Kirschen erinnern mich an Ermschwerd: schwarze, große, süße, reife, direkt vom Baum gepflückte Herzkirschen wie auf der Kirschplantage meiner Großeltern.. Sie schmecken wunderbar. Der Mann fühlt sich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht mehr ganz so tiptop. Deswegen wird der Baum in der Höhe beschnitten, so daß er immer noch gut die Früchte holen kann.

Bürger von Beckstein mit seinem Kirschbaum

Weiter geht es durch das idyllische Tal. Kein Wunder das bei einer solchen Landschaft, Hermann Hesse solche Bücher und Gedichte geschrieben hat, wie z.B. Knulp, „Seltsam im Nebel zu wandern“ oder „Aus zwei Tälern“.

Hier wird auch Wein angebaut. Die Tauberschwarze. Es geht an einem Weingut vorbei zum Ort Sachsenflur. Dann geht es wieder hoch. Ein langer 12% steiler Anstieg. Es ist Nachmittag und die Sonne scheint. Heute geht ein frischer Wind. Oben stelle ich mich in den Wind mit geöffneten Armen und freue mich.

12 % Steigung im Taubertal

Dann geht es weiter durch den Wald bis nach Bad Mergentheim. Ich habe ein günstiges Zimmer gefunden. Als ich durch die Stadt gehe, sehe ich viele schöne und interessante Gebäude, wie z.B. ein Schloß des Deutschritterordens. Ich beschließe morgen einen Pausentag einzulegen und mir Bad Mergentheim genauer anzugucken.

Das Zimmer ist überraschend groß und hat sogar einen Balkon, W-LAN und TV. Das Bad und WC sind auf der Etage. Es gibt eine Badewanne. Ich nehme ein heißes Bad. Seitdem ich aus Frankfurt weggezogen bin, hatte ich kein Wannenbad mehr. Seit meinem letzten Saunabesuch habe ich mich nicht mehr so sauber gefühlt. So fühlt sich für mich heute Luxus an.