Category : Europäischer Fernwanderweg E8

Im Taubertal: Wertheim – Reicholzheim – Kloster Bronnbach – Gamburg

Heute ist der fast 80-jährige Wirt wieder derjenige, der alles macht: Service – Empfang – Rezeption -Küche. Wie schon gestern Abend. Ein Gast fragt ihn, ob er alles allein machen muss. Er antwortet mit: „Nein, manchmal mache ich auch eine Pause.“ Später erzählt er mir, dass seine deutsch-brasilianische Ehefrau eine Woche vor dem Lockdown nach Brasilien gereist ist und nicht mehr zurückkommen darf. Seitdem macht er den Laden alleine.

Am Anfang laufe ich durch die Altstadt von Wertheim quer über den Marktplatz. Überall sind Andenken- und Kunst-Stände aufgebaut und es sind schon einige Touristen da, die in den verschiedenen Cafés ihr Frühstück einnehmen. Es geht hoch in Richtung Burg Wertheim. Die ursprüngliche Route des E8 kann ich nicht gehen, da auf dem Weg liegende Terassenbauten baufällig sind. Ich muss einen Umweg laufen, direkt an der Burgruine vorbei. Sobald ich Wertheim verlasse, bin ich wieder allein. Es geht steil den Berg hinauf durch den Wald. Als ich auf der Berghöhe angekommen bin, geht es auf einem Höhenweg weiter. Der Bergrücken ist schon fast wie ein Hochplateau, eben und breit. Ich komme durch Wiesen und Felder an einem Hof vorbei. Vor 12 Uhr steige ich in den Ort Reicholzheim an der Tauber ab. Hier kaufe ich mir eine Brotzeit. Danach geht es wieder hoch auf den Bergkamm. Es geht an einen Wald vorbei. Das Wetter ist sonnig, aber immer wieder kommt eine frische Brise auf. Der Wald ist abwechslungsreich und teilweise verwildert.

Der E8 führt an dem Kloster Bronnbach vorbei, einem ehemaligen Zisterzienserkloster, das jetzt für Schulungen und Seminaren genützt wird. Ich finde es gut, dass der E8 solche Sehenswürdigkeiten auf der Route berücksichtigt. In den Biergarten der Klosterschänke gehe ich nicht, fast alle Tische sind mit Radlern besetzt. Ich besichtige das Kloster. Es ist ein altes Kloster, das in der gotischen Zeit gebaut wurde, dann im Barock und Rokoko seine Ausgestaltung erlebte. Alles ist großzügig angelegt. Das Kalefaktorium gefällt mir. Die Wärmestube der Mönche ist jetzt ein Kaminzimmer, in dem verschiedene Sitzgelegenheiten, Couchtische und Sofen stehen. Ich setze mich auf einen der überraschend bequemen Sitzgelegenheiten. Es ist angenehm kühl und ich werde schläfrig. Ich schlafe ein. Später weckt mich eine Mitarbeiterin, die etwas aus dem Raum holt. Sie beruhigt mich und empfiehlt mir, mich nicht stören zu lassen.

Nach dem Kloster geht es wieder auf die Berghöhe in den Wald und ich erreiche am Ende des Nachmittages mein Tagesziel Gamburg an der Tauber. Ein sehr idyllischer Ort mit Gänsen, die den Rasen vom Fußballplatz kurz halten und Kindern, die im Fluß baden. Die Gänse rufen auch Nachts immer wieder, ansonsten ist alles ruhig.

Mein Blick aus dem Gästezimmer auf Gamburg und Burg Gamburg

Ich habe Glück und kriege im ersten Gästehaus „Haus Martin“ das gelbe Zimmer. Eigentlich war das Zimmer reserviert, wurde aber heute vormittag kurzfristig storniert wegen Corona. Die Wirtin bietet mir Kirschen an. Bald ist die Kirschenzeit in der Region vorbei. Immer wieder habe ich in den letzten Tagen von Kirschbäumen am Wegesrand genascht. Heute waren sie besonders süß und überreif. Ich freue mich über die angebotenen Süßkirschen und esse sie alle auf.

Ich tausche mich mit einem ehemaligen Kollegen aus. Wir verabreden uns morgen zum Mittagessen und planen dann mit seiner Frau gemeinsam ein Stück des Weges zu laufen. Ich bin schon gespannt, wie das gemeinsame Wandern wird.

Am Main entlang: Faulbach – Hassloch – Wertheim

Gestern habe ich mit meinem Bruder telefoniert. Es war sehr ermutigend für mich. Er liest regelmässig den Blog und verfolgt wohlwollend meine Wanderung.

Ich habe mein Ladegerät für meinen Laptop nicht mehr und der Strom reicht nicht mehr lange. Ich bin mitten in der Provinz und es war schon in Obernburg nicht möglich Zubehör zu kaufen. Heute morgen bin ich kurz davor mit der Westfrankenbahn nach Aschaffenburg über eine Stunde oder Crailsheim über 2 Stunden zu fahren, um dort eines zu kaufen und dann wieder an den E8 zu fahren. Der ganze Tag wäre mehr oder weniger vertrödelt. Ich suche im Internet, ob es vielleicht noch eine andere Möglichkeit gibt. Tatsächlich gibt es einen Elektronikladen im nächsten Ort, an dem die Bahn nur hält, wenn jemand das Stoppsignal drückt. Ich rufe um 8 Uhr an. Der Chef des Ladens meldet sich freundlich und hat erstaunlicherweise das Ladegerät auf Lager!

Beruhigt gehe ich los. Am Friedhof von Breitenbrunn begegnen mir zwei Männer vom Bauhof, die mit ihrem Fahrzeug etwas am Friedhof erledigen. Kurz denke ich darüber nach, ob sie mich das Stück nach Faulbach mit nehmen können. Aber ich lass es, der Morgen und der Weg nach Faulbach durch die Streuobstwiesen ist einfach zu schön. Und schon sehe ich wieder zwei der Milane von gestern.

In Faulbach begegne ich den Männern wieder. Diesmal leeren sie die Mülleimer am Mainufer. Ich begebe mich wieder auf den E8. An der nächsten Kreuzung: die Männer vom Bauhof. Einer der beiden trägt eine Sonnenbrille, wie sie damals zu Diskozeiten cool war. Er winkt mir. Ich winke zurück. Der Mann mit der Sonnenbrille spricht mich an, er denkt ich hätte mich verlaufen. Wir kommen ins Gespräch. Sie raten mir nach Hasloch nicht auf dem E8 zu wandern, sondern am Main entlang. Sie begründen die Empfehlung, dass der E8 nicht gemulcht und es am Main schöner sei. Ich lasse mich überreden. Sie fahren weiter. Und schon sehe ich sie an der nächsten Unterführung, deren Höhe sie ausmessen. Als ich dann am Mainfrankenweg aus Faulbach raus marschiere, kommen sie mir entgegen. Wenigstens meinen Rucksack hätte sie ja mitnehmen können. Sie winken mir wieder zu. Zum letzten Mal heute.

Ich wandere dann den Mainfrankenweg am Main entlang. Der Main ist schön. Die Fahrradfahrer nicht, sie fangen an mich zu nerven. Besonders diejenigen, die in größeren Gruppen fahren. Die meisten sind im Seniorenalter. Alle mit Funktionskleidung, Schutzbrillen und Helmen. Die Bikershop Mitarbeiter sind anscheinend gute Verkäufer. Ich bin der einzige Wanderer. Das nächste Mal werde ich die Wege mit Fahrradfahrern meiden.

In Hasloch finde ich den Elektronikladen. Der Laden ist modern eingerichtet. Der Chef ist nicht da, nur eine junge Verkäuferin. Am Anfang ist sie misstrauisch, später kommen wir gut ins Gespräch. Sie hat das Ladegerät da. Ich probiere es gleich aus. Netterweise darf ich das W-Lan benutzen. Ich lade meinen Blog vom gestrigen Tag hoch. Ich habe die ersten Rückmeldungen bekommen, Verwandte haben sich schon Sorgen gemacht, weil am Morgen nichts neues im Blog war. Ich bekomme eine Tasse Kaffee spendiert. Die Verkäuferin ist ursprünglich aus der Ukraine und nicht so jung wie ich ursprünglich dachte. Sie lacht, als ich sie darauf anspreche, und sagt, dass sie nachts immer im Kühlschrank übernachten würde, das hält frisch. Ich erzähle ihr von meiner Reiseroute. Sie rät mir eindrücklich davon ab, durch die Ukraine zu wandern. Bei der Einreise müsste ich 2 Wochen in Quarantäne und dann nochmal 2 Wochen, wenn ich nach Rumänien ausreisen würde. Da hat sie durchaus ein gutes Argument. Außerdem soll der E8 in der Ukraine nicht ausgeschildert sein.

Gut ausgestatteter Elektronikladen mitten in der Provinz in Hasloch

Ich wandere weiter, diesmal wieder durch den Spessart. Es ist ein schöner Höhenwanderweg im Wald. Oben mache ich an einem Südhang Rast und wundere mich über terrassenförmige Anlagen, in denen aber alle möglichen Arten von Bäumen wachsen. Waren hier früher Weingärten, die später dann aufgegeben wurden und allmählich verwildern?

Ich komme aus dem Wald raus und laufe über Streuobstwiesen nach Wertheim. In Wertheim habe ich eine Unterkunft mitten in der Altstadt gefunden. Es liegt sehr idyllisch und ich kann hören, wie die Nachbarn sich über die Fenster auf fränkisch unterhalten. Die Stadt selber sieht aus wie aus dem Mittelalter und ist gut erhalten. Es sind viele Touristen da und auch die entsprechenden Geschäfte. Wertheim und seine Fußgängerzone in der Altstadt erinnern mich an die Drosselgasse in Rüdesheim, nur die Chinesen und Japaner fehlen. Dafür gibt es hier die Radfahrer.

Am Main entlang: Collenberg – Dorfprozelten – Faulbach

Heute morgen regnet es. Ich werde bereits um 6:45 Uhr geweckt und bekomme das Frühstück auf das Zimmer gebracht. Toller Service, nur ein bisschen früh. Abgemacht war 7 Uhr gewesen. 

Ich breche nach dem Frühstück bei leichtem Nieselregen auf. Eine Wohltat nach der schwülen Wärme von gestern. Am Anfang wandere ich am Main entlang. Es ist wunderbar. Die Luft ist frisch, der Main liegt ganz ruhig, fast bewegungslos, neben mir. Viele Wasservögel sind unterwegs und kein bisschen scheu. Ich bin wie verzaubert und kann mich vom Main kaum losreißen. Aber nach ein paar Kilometern geht es wieder in den Wald. Im Wald ist es auch frisch und kühl und überall naß. 

Ich komme an der Ruine Collenburg vorbei. Hier mache ich meine erste Rast. Ich ziehe meine inzwischen nassgeschwitzten Oberteile aus und lasse sie ein bisschen ausdampfen. Der Regen hat zwischenzeitlich nachgelassen. Von hier oben habe ich einen guten Ausblick auf den Main und seine Ufer.

Es geht weiter durch den Wald. Mittags bin ich in Dorfprozelten. Zum ersten Mal klappt mein Timing: ich bin zur Mittagszeit in einer Ortschaft, ich habe Appetit und es gibt eine Wirtschaft, die geöffnet hat. Fränkische Küche. Ich liebe die Klöße mit Soße. 

Ich frage die Wirtin, ob sie eine Übernachtungsmöglichkeit in meinen Tageszielort wüsste. Sie verneint und behauptet, dort und in den weiteren Ortschaften würde es nichts mehr geben.  Auf Kuba hatte ich so eine Reaktion auf meine Anfrage anders erlebt. Ich war einmal mit meinen Kindern auf Kuba, mit einem Mietauto, alles selbst organisiert. Dort ist es wie folgt abgelaufen. Sobald wir ein Quartier (eine Casa Particulares) hatten, wurden wir von den Herbergswirten immer weiterempfohlen. Jedes Mal haben sie sogar vorher im Zielort angerufen, um sicher zu stellen, dass es auch freie Zimmer gibt. Es gibt in Kuba ein informelles Netzwerk der privaten Herbergswirte. Es hatte immer geklappt. Hier in Mainfranken ist das anders: Das Internet zeigt nichts an und das fränkische Herbergswirte-Netzwerk  existiert nicht. 

Es regnet wieder und ich laufe weiter. Es geht in den Spessart durch den Wald über Streuobstwiesen und an Bauernhöfen vorbei. Es ist alles sehr abwechslungsreich. Ich folge dem Fränkischen Marienweg, an dem immer wieder Marienstatuen oder sogar Altäre stehen. Ich wurde immer wieder in den letzten Tagen gefragt, ob ich auf einem Pilgerweg sei. Das interessiert die Leute sehr und sie teilen mit mir dann den Wunsch, einmal im Leben den Jakobsweg zu gehen oder sie haben diesen teilweise schon begangen. Vielleicht hat das auch mit der Frage nach „spirituell“ oder „kontemplativ“ zu tun. Ich werde nachdenklich. Ich fühle mich aktuell eher wie ein deutscher Romantiker. Die haben im 19. Jahrhundert den Zauber und die Magie der Natur für sich entdeckt und sind gerne raus und wandern gegangen. Die deutschen Romantiker sind inzwischen ausgestorben, wahrscheinlich war Heinrich Heine der letzte und der hat sich gerne über die anderen Romantiker lustig gemacht. Ich fühle mich heute wie ein deutscher Romantiker: Der stimmungsvolle Morgen im Nieselregen am Main. Die Begegnungen mit wilden Tieren. Das Alleinsein im Wald und auf dem Fernwanderweg. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das ich schon irgendwie ein Quartier und was zu Essen und Trinken finden werde. Meine Tante würde sagen, das Universum sorgt schon für dich, du musst dich nicht selber sorgen. Mein Heine sind die Kriebelmücken, Brombeerranken und Brennnesseln, die sich über mich lustig machen.

Ich komme an der Ruine Henneburg vorbei. Die Ruine ist teilweise eingerüstet und die alte Burg wird wieder hergestellt. Es soll die größte Burgruine in Bayern sein. Von da oben gibt es das schönste Panorama des heutigen Tages. Es geht weiter nach Faulbach auf einem Höhenweg entlang des Mains. Sehr schöner weicher Boden. Das ist für die Füße echtes Genusswandern. Heute hatte ich auch schon Pfade gehabt, wo ich mir eine Machete gewünscht habe, um die Brombeerranken und Brennnesseln aus dem Weg zu schlagen. Die haben die letzen Tage tüchtig in ihr Wachstum investiert. Es kann schon lange keiner mehr den E8 gelaufen sein.

In Faulbach angekommen, setze ich mich an das Mainufer und bewundere ein Lastschiff, das gerade die Schleuse passiert. Ich versuche ein Quartier zu finden. Wie schon im letzten Ort angekündigt, nicht ganz einfach. Ferienwohnungen werden nur an mehrtägige Gäste vermietet und nicht an One-Night-Stand-Hiker. Ich versuche es im nahegelegenen Café. Der Wirt ist hilfreich, kennt aber nur Herbergen in weiter entfernten Ortschaften. Er ist in Erzähllaune und berichtet mir von einem Wanderer, der letzte Woche bei ihm einen Cappuccino getrunken hat und nach Wien wandern wollte. Ich bin elektrisiert. Ich bin tatsächlich nicht der einzige auf dem E8! Und der 78-jährige Mann hat nur 6 Tage Vorsprung, da könnte ich ihn vielleicht vor Wien noch einholen. Der Wirt erzählt weiter, von einer Schiffersekte. Die Mitglieder dieser Sekte arbeiten auf den Lastschiffen und müssen einmal in ihrem Leben von der holländischen Grenze zu Fuß entweder bis nach Rom oder Wien wandern. Auch die kehren gerne bei ihm ein, meistens im September oder Oktober, meistens Holländer, aber auch Deutsche. 

Ich verabschiede mich und versuche mein Glück in einer Ortschaft zwei Kilometer von Faulbach entfernt. Dabei muss ich an das Gespräch mit dem Wirt denken und eine Idee fängt an, in mir zu entstehen. Was wäre, wenn ich tatsächlich das Schwarze Meer erreichen sollte. Bisher habe ich mir keine Gedanken gemacht, wie ich dann wieder nach hause komme. Aber jetzt…. Falls ich wirklich das Schwarze Meer erreichen sollte, dann könnte ich doch auf einem der Lastkähne anheuern oder eine Passage buchen. Und dann mit dem Schiff vom Ufer des Schwarzen Meeres die Donau hoch, über den Main-Donau-Kanal auf den Main, Mainabwärts an Frankfurt vorbei zum Rhein, in Bingen schließlich an Land gehen und dann das Nahetal hochwanden bis Bad Kreuznach. Das wäre dann nur noch ein Klacks. Die Idee fängt an mir zu gefallen.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Ich sehe 4 Milane am Himmel. Wahrscheinlich 2 Altvögel und ihre Jungvögel. Die Eltern zeigen ihren Jungen, wie sie elegant die Thermik nutzen können. Es sieht super aus. Einen kurzen Moment später fällt mir ein Schwarm Rabenkrähen auf. Alle haben einen gegabelten Schwanz. Diese Art kenne ich noch nicht. Ob meine Onkel aus Nordhessen wissen, um welche Art es sich handelt?

Ich erreiche den Ort Breitenbrunn und einen Gasthof, der gerade öffnet. Es gibt ein Zimmer für mich. Kein W-Lan, kein Fernseher, kein Besuch, kein anderer Gast. Fast komme ich mir vor wie bei meinem letzten Klinikaufenthalt. Aber es gibt etwas Gutes zu essen, es ist günstig und ich komme in den Genuss der reduzierten Mehrwertsteuer. Meine angefachte Konsumfreude lässt mich die gesparte Mehrwertsteuer in das Trinkgeld investieren.

Am Main entlang durch den Spessart: Großheubach – Collenberg

Heute morgen beim Bezahlen frage ich nach dem neuen Mehrwertsteuersatz. Der Wirt beklagt sich sofort über den administrativen Aufwand, den das alles bedeutet und dass er selber nichts ändert, weil ihm das alles zu teuer sei. Also wird meine Konsumfreude nicht weiter befeuert und der Wirt verdient 3% heute mehr an mir. Dafür kriege ich eine handgeschriebene Rechnung, weil ja die Registrierkasse nicht umgestellt wurde.

In Großheubach geht es sofort direkt nach oben auf den Engelsberg. Mein Kollege hatte mir gestern noch mitgegeben: „Da sind die Treppen, die direkt in den Himmel führen!“ Eine Treppe mit über 600 Stufen führt aus dem Ort hoch auf dem Berg, wo ein Franziskanerkloster steht. Ich steige die Treppe hoch und bewundere die Mönche. Wie raffiniert: jeder Besucher muss die Treppe hoch steigen, kommt außer Puste, schwitzt, muss in nach vorne gebückter Haltung gehen, sonst fällt er rückwärts wieder runter und wenn er endlich oben ist, dann hat er seine Sünden schon ausgeschwitzt und die richtige demütige Körperhaltung trainiert, um mit dem Abt zu reden.

Das Kloster mit seinem Klostergarten ist das architektonische Highlight des Tages. Von dort oben habe ich einen tollen Blick auf das Maintal und seine Städte. Ein gut gepflegter Klostergarten hat ein Marienheiligtum im Zentrum. Hier kommen gerne Katholiken her, um bei der heiligen Maria Wünsche abzugeben und sich zu bedanken. Heutzutage kann jeder auch mit einem Auto hochfahren und muss nicht wie ich zu Fuß auf den Berg.

Von dort aus geht es durch den Spessart weiter auf dem Mariahilf-Weg, der parallel zum E8 verläuft. Der Spessart steht hier unter Naturschutz und hat schöne hohe Bäume, wie Buchen, Eichen, aber auch Kiefern. Ich bin wieder alleine. Kein Mensch begegnet mir auf dem Weg. Heute ist es schwülwarm und der Weg zieht sich durch den Wald. Die Bäume stehen hier nicht so dicht und es kommen immer wieder Abschnitte, auf denen ich in der prallen Sonne gehen muss. Ich achte auf die Wolken, da der Wetterbericht Gewitter für heute Nachmittag bzw. Abend angekündigt hat. Ich fange an müde zu werden. Der Wald ist zwar schön, aber bisher ereignisarm.

Am späten Nachmittag werde ich dann belohnt. Vier Hirschen kreuzen meinen Weg! Und 10 Minuten später noch spektakulärer: ein Reh mit ihrem Kitz. Ich kann beide minutenlang beobachten, dann bemerkt mich die Mutter und beide springen in hohen Sprüngen davon. Wow! Das Wild ist hier gar nicht scheu. Wolf, Luchs und Mensch verirren sich in diesen Teil des Waldes anscheinend selten.

Heute suche ich mein Quartier auf die traditionelle Weise. Laut Internet gibt es kein Hotel oder Pension in Collenberg, meiner nächsten Station. Ich gehe langsam von der Peripherie ausgehend in Richtung Ortsmitte. Dabei schaue ich, ob vielleicht jemand ein Zimmer oder Ferienwohnung vermietet. Ich finde nichts. Das wäre nach 20 Kilometern unschön noch fünf Kilometer weiterwandern zu müssen in der Hoffnung im nächsten Ort etwas zu finden. In der Ortsmitte sehe ich einen alten Gasthof, der mich ein bisschen an den Bretthauer in Erschwerdt erinnert. Tatsächlich steht sogar die Eingangstür offen. Ich habe keine Lust die Gesichtsmaske aufzusetzen und rufe deswegen rein: „Gibt es etwas zu trinken?“ Sofort kommt die Antwort: „Ja!“ Ich frage ein zweites Mal: „Gibt es etwas zu essen?“ Die Antwort lautet: „Nein“ Und ich frage als Drittes: „Gibt es eine Übernachtungsmöglichkeit?“ Leider ist die Antwort schon wieder „Nein“.

Ich beschließe trotzdem einzukehren und etwas zu trinken. Ich bin müde und abgekämpft. In der Kneipe sitzen ein Mann und eine Frau. Ich bestelle eine Johannisbeerschorle und frage, wo es eine Unterkunft geben könnte. Der Mann antwortet, dass sei schwierig in Collenberg, sehr schwierig. Ich trinke mein Glas halbleer und überlege. Auf einmal sagt der Mann, er hätte eine Idee und schon ist er raus. In aller Ruhe trinke ich weiter. Nach fünf Minuten ist der Mann wieder zurück. Bekannte von ihm vermieten mir ein Zimmer. Ich trinke das Glas aus, bezahle und er zeigt mir den Weg. Nur 100 Meter weiter bekomme ich ein Zimmer bei einer Familie. Nicht nur das, ich werde herzlich begrüßt und aufgenommen, bekomme ein frisch zubereitetes leckeres Abendbrot und das Versprechen auf ein Frühstück am nächsten Tag. Alles für 45 €.

Ich bin dankbar.

Zwischen Main und Spessart: Obernburg – Klingenfels – Großheubach

Es hat sich ein Sponsor für meine Wanderung gemeldet und mir bereits eine ordentliche Summe überwiesen. Hurra! Ich freue mich riesig und danke dem edlen Spender herzlich!

Heute morgen bin ich in der Römerstraße in Obernburg gestartet, dann an der Kirche St. Peter und Paul vorbei. Der mittelalteriliche Kirchturm ist gut erhalten, aber das Kirchenschiff ist aus der Mitte des letzen Jahrhunderts und hat ein 12-giebliges Dach mit großen bunten Fenstern, ein gepflasterter Weg führt in dieses Gebäude. Die Architektur finde ich sehr angenehm und erinnert mich an die Werke der Familie Böhm aus Köln und Neviges. Bei dem Namen der Kirche fällt mir immer wieder ein, dass mein Vater katholisch getauft, aber evangelisch konfirmiert wurde.

Von dort aus geht es auf eine Brücke über den Main. Es ist frisch und bewölkt. Das ist mir inzwischen das liebste Wanderwetter. Zuerst geht es durch einen Ort bis zum Beginn des Spessarts und von da ab durch den Wald. Fand ich die Beschilderung für den E8 im Odenwald schon gut, finde ich die in Mainfranken noch besser. An fast jeder Weggabelung finde ich das Zeichen. So komme ich gut voran. In Bayern sind auch viel mehr Wanderer unterwegs: alleine, in Paaren oder in Wandergruppen. Die meisten begegnen mir freundlich und interessiert und es kommt zu kurzen Begegnungen. So viele Wanderer habe ich in den letzten 12 Tagen insgesamt nicht gesehen.

Eine Begegnung möchte ich teilen: ein 82-jähriger Mann kommt mir entgegen. Mir fällt auf, dass er einen richtigen Wanderhut trägt und auch sonst gut ausgerüstet ist, er hat aber keinen großen Rucksack bei sich. Er mustert mich aufmerksam und nach einer kurzen Begrüßung fragt er mich, ob ich weiter wandern würde als nur einen Tag. Wir kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass er nach seiner Verrentung zwei Fernwanderungen durch Europa alleine unternommen hatte. Einmal von Polen auf dem Jakobsweg nach Santiago di Compostella und ein zweites Mal von Schleswig-Holstein nach Rom. Seine Augen sind wach und funkeln und am liebsten würde er mit mir auf den E8 nach Osten wandern. Aber er fühlt sich körperlich zu schwach. Inspiriert ziehe ich weiter.

Der Mainfrankenweg und der E8 laufen teilweise parallel und sind hier ein Höhenwanderweg. Ich komme auf die bisher schönste Strecke. Ein Höhenwanderweg entlang des Mains bis Klingenberg. Die Aussicht ist fantastisch und begleitet mich den ganzen Weg. Ich kann den Main, die anliegenden Ortschaften, den Odenwald und das Umland sehen. Ich kann das Maintal hören. Laute Motorengeräusche erfüllen das ganze Tal. Alles wirkt sehr lebendig und emsig. Am Weg entlang sind immer wieder modern gestaltete Aussichtsplattformen und es geht durch die Weinberge. Immer wieder zeigen Schilder, was es alles interessantes zu sehen und zu wissen gibt. Offenbar verkaufen auch die Winzer immer wieder ihren Wein an diesem Weg. Ein echter Luxuswanderweg mit lokaler Weinversorgung! Das würde meinem Vater bestimmt gut gefallen.

An der Ruine Clingenberg mache ich Rast. Der dortige Gasthof hat heute Ruhetag. Es gibt eine Terrasse von der man aus gut in das Maintal gucken kann. Ich esse ein bisschen was, lege mich dann auf eine Bank, mache ein Nickerchen und lasse mich von den relativ vielen Touristen nicht stören.

Von dort aus geht es wieder durch den Spessart zuerst runter ins Tal, über eine Landstraße und dann bergan durch den Spessart dem Main aufwärts folgend. Die letzten Kilometer sind immer diejenigen, die mich am meisten anstrengen.

Ich erinnere mich daran, dass ein ehemaliger Kollege in Kleinheubach auf der anderen Mainuferseite wohnt. Ich frage ihn per email, ob er Lust hat, sich mit mir heute Abend zu treffen. Er hat Zeit und Lust!

Kurz vor Oberheubach werde ich noch einmal mit einem tollen Panorama auf Großheubach, Main und Kleinheubach belohnt. Komisch, aus den Erzählungen meines Kollegens hatte ich immer geschlossen, dass es sich um ein kleines verschlafenes fränkisches Bauerndorf handeln müsste, in dem sich eine Firma für Patisserie angesiedelt hatte. Was ich sehe, ist aber viel größer, es gibt ein Schloß, viele Firmen, es ist viel Verkehr und die ganze Stadt brummt und lärmt, so lebendig ist sie.

Mein Kollege muss später herzhaft lachen als ich ihm von meinen enttäuschten Phantasien über seinen Heimatort erzähle.

Vom Odenwald an den Main: Vielbrunn – Obernburg am Main

Heute morgen werde ich zuerst von Stimmengewirr und dann von einer elektronisch verstärkten Stimme geweckt. Meinen Plan, heimlich am Morgen eine Runde nackt schwimmen zu gehen, muss ich aufgeben. Im Freibad findet ein Taufgottesdienst der christlichen Gemeinde Michelstadt statt, die viele russlanddeutsche Mitglieder hat. Es ist eine Erwachsenentaufe und die Täuflinge stehen in weißer Kleidung am Beckenrand, die Frauen tragen zusätzlich noch eine Haube. Später werden sie im Schwimmbadwasser vom ebenfalls weiß gekleideten Priester getauft. Ich bin gerührt.

Ich gehe zum Frühstücken und beobachte dabei den weitern Verlauf des Gottesdienstes. Nach dem Ende der Veranstaltung breche ich auch auf.

Das Wetter ist heute frisch und bewölkt. Ich komme gut voran. Am Anfang kommt ein Anstieg, danach geht es mehr oder weniger bergab bis nach Obernburg am Main. Ein Teil des E8 geht parallel zum Limesweg. Der Limesweg orientiert dabei sich an dem historischen Verlauf des Limes in dieser Gegend. Dabei werden verschiedene Stellen, wie z.B. Wachtürme und ein Kastell, gezeigt, die einem einen Eindruck geben, wie gut und effizient die römische Verteidigung entlang des Limes organisiert war. Mir gefallen solche geschichtlichen Zusammenhänge.

Vor den Toren von Obernburg holt mich ein ehemaliger Kollege mit dem Auto ab und bringt mich zu seinem Haus. Der Vorbesitzer des Hauses war Förster gewesen. Das Haus liegt am Hang, direkt am Waldrand mit einem schöne Blick in das Maintal und ist großzügig geschnitten. Ich kriege eine gute Suppe zum Essen und reichlich zu trinken. Viele Kinder sind im Haus und spielen. Es gibt Hühner und Schafe. Ich fühle mich ein bisschen an die Kinder aus Bullerbü erinnert. Die Kinder sind alle beschäftigt und ich kann mich gut mit meinem Freund unterhalten. Am Ende meines Besuches spielen wir noch mehrere Partien Kicker. Der Hausherr gewinnt sourverän.

Morgen lege ich einen Pausentag in Obernburg ein.

Immer noch im Odenwald: Michelstadt – Vielbrunn

Heute morgen ist das Wetter noch unbeständig. Nach dem Frühstück gehe ich noch einmal auf mein Zimmer und schlafe tatsächlich noch einmal ein. Später ist das Wetter sonnig und ich beschließe loszugehen. Inzwischen stelle ich bei mir fest, dass ich beim Verlassen von Ortschaften gerne zuerst den falschen Weg wähle. So auch heute. Das sind erst einmal wieder 1,5 Kilometer Umweg. Ich wüsste gerne, woran das liegt.

Beim Verlassen von Michelstadt fallen mir sieben Häuser auf, die in einer Reihe stehen. Jedes Haus ist zweigeteilt und hat anscheinend unterschiedliche Besitzer, denn jede Hälfte sieht anders aus. Sei es Farbe oder Fenster oder der Garten. Es sieht immer so aus, als ob jemand einen Strich in der Hausmitte gezogen hat und dann jeder Besitzer seinem eigenem Geschmack gefolgt ist. Insgesamt macht es einen Eindruck auf mich, wie ein gemeinsamer Rahmen doch sehr unterschiedlich ausgestaltet werden kann.

Obwohl es in der Nacht kräftig geregnet hat, ist es bereits warm und schwül. Nach Michelstadt geht es stetig und teilweise kräftig bergauf, meistens durch Wald. Ich fange schnell kräftig das Schwitzen an. Nach einer Stunde ist kein trockener Faden mehr an mir, sogar der Hut ist total nass und tropft. Mir läuft der Schweiß in schweren Tropfen am Körper runter. Ich muss öfters eine Trinkpause machen. Heute ist nicht mein Tag.

Unterwegs chatte ich einen lieben ehemaligen Kollegen an, der in der Nähe von Obernburg wohnt. Er lädt mich ein, bei ihm am Sonntag vorbeizukommen. Das hebt gleich meine Stimmung.

Ich kämpfe mich bis zum Örtchen Vielbrunn durch und freue mich schon, in einem der Cafés oder Restaurants eine Pause zu machen. Im Vorfeld von Vielbrunn fängt es auch an interessanter zu werden. Am Ortseingang wartet die Odintanne, ein Baum der schon mehrere Jahrhunderte alt ist. Denkmalgeschützte Steinstelen säumen teilweise die Wege. Kirschbäume ragen immer wieder in den Weg und bieten ihre reifen Früchte an. Vielbrunn wirkt auf den ersten Blick wie ein kleines verschlafenes Dorf, ist aber mit 1700 Einwohnern größer als ich gedacht hatte. Es hat sogar einen Golfplatz. In einem ehemaligen Feriendorf haben sich Großstädter eingekauft und verbringen hier ihren Ruhestand. Enttäuscht muss ich feststellen, dass das erste Café coronabedingt geschlossen ist. Andere Läden, wie Metzger und Bäckerei, haben bereits geschlossen. Es ist bereits Samstagnachmittag. Ich bin frustriert, aber ich will nicht aufgeben. Endlich finde ich ein Hotel mit Café, das offen hat. Glück gehabt. Die Beerentorte schmeckt sensationell gut, der Sohn der Wirtin ist Konditor. Von dem Café aus kann ich ein Freibad erkennen. Ich erhole mich allmählich. Ich spreche mit der Wirtin und frage sie nach meinem nächsten Ziel, wo ich eine Unterkunft finden könnte. Sie kennt keine, aber empfiehlt mir, auf jeden Fall vorher zu checken, ob etwas frei ist. Im Internet finde ich ein „Bed & Breakfirst“. Meine Anrufversuche scheitern, es hebt niemand ab. Ich sehe dunkle Wolken aufziehen und werde unsicher, ob vielleicht nicht doch noch ein Gewitter kommt.

Am Schluß entscheide ich mich, in Vielbrunn zu bleiben und in das Freibad zu gehen, bevor ich unterwegs von einem Gewitter erwischt werden und dass dann ohne Unterkunft.

Das Freibad ist sehr überschaubar. Es sind vielleicht 20 Gäste da, die sich alle kennen oder nach einiger Zeit kennen lernen. Ich frage die Frau an der Kasse bzw. Kiosk, wie es gelingt, dieses Freibad in so einem kleinen Ort zu finanzieren. Ein Förderverein betreibt das Schwimmbad. D.h. die Vereinsmitglieder betreiben das Bad und die Stadt bezahlt die Energiekosten und das Wasser. Die Stadt erhält den Erlös aus den Eintrittskarten. Ich bin begeistert.

Ich gehe schwimme und kühle ab. Dann lege ich mich in den Schatten einer mächtigen Linde und beobachte das Treiben der Badegäste. Alle sind entspannt und unterhalten sich gut, auch ich werde miteinbezogen.

Die folgende Szenerie zeigt exemplarisch, wie hier das Sommergefühl ist: Ein Mittvierziger in bunten Badeshorts zieht an mir vorbei. Er hält vier leere Bierflaschen in der Hand und singt: „das Leben ist so schön“ und freut sich darüber, dass er trinkfester ist als die drei Rumänen, die er heute im Bad kennengelernt hat. Sein ältester Sohn spielt mit vier jungen Dorfschönheiten Volleyball oder zeigt ihnen seine Sprungkünste im Bad. Der jüngere Sohn schwimmt tapfer eine 10 Meter Bahn und beeindruckt anschließend mit Popcorn die kleinen Mädchen.

Ich gehe entspannt in meine Unterkunft und beschließe am morgigen Vormittag nach Obernburg zu wandern, um dort einen Pausentag einzulegen. Am Montag möchte ich mich auch mit einem Pädagogen treffen. Vielleicht ergibt sich daraus ein Engagement für mich.

Immer noch im Odenwald: Ostertal – Ober-Mossau – Michelstadt

Ich habe in der letzten Nacht fünf blutsaugende Mücken um 2:30 Uhr in meinem Zimmer getötet.

Am Morgen kann ich den Wirt leider nicht überzeugen, mir das Ladekabel zu verkaufen. Seine Mutter – übrigens eine reizende alte Dame – braucht es noch.

Ich passe nicht richtig auf als ich den Ort verlasse. Keine Netzverbindung und prompt habe ich mich verlaufen. Ich finde den Weg aber mit einem Kompass wieder. Knapp 2 Kilometer Umweg sind entstanden. Es geht über eine Landstraße hinweg hoch durch einen Nadelwald zur Lärmhütte. Auf dem Weg finde ich Blaubeeren, die reif sind. So richtig lecker direkt von der Pflanze.

Nach der Lärmhütte geht es abwärts nach Ober-Mossau. Ich komme zur Mittagszeit an. Hier steht eine große Privatbrauerei, die auch einen Ausschank hat. Ich lerne drei Wandersleute kennen, ein Ehepaar mit einer Freundin. Es stellt sich heraus, dass sie vom Odenwaldclub sind. Ich bedanke mich repräsentativ bei Ihnen für die gute Beschilderung. Es kommt ein nettes Gespräch zustande. Die drei sind gerade auf einer Drei-Tages-Tour. Die ersten echten Wanderer, die mehr als eine Tagestour unternehmen, denen ich begegne. Ich trinke eine Hopfenlimo und dann geht es weiter. Zuerst durch den Ort immer aufwärts, dann bei einer Kreuzung geht es wieder in den Wald. Es wird allmählich wärmer und schwüler. Es geht an einem Flugplatz vorbei und ich erreiche die Ortschaft Michelstadt. Kurz vor dem Ort ist ein Friedwald. Hier ist mein Onkel Karl-Heinz bestattet. Ich habe nur positive Erinnerungen an ihn. Vielen Dank für alles, Karl-Heinz!

Dann erreiche ich den Ortskern von Michelstadt. Zuerst laufe ich durch ein neumodisches Gewerbegebiet mit den üblichen Zweckbauten. Dann kommt der historische Ortskern mit alten gut zurecht gemachten Gebäuden. Ich komme in einem alten Gasthaus unter.

Ich kann direkt nebenan ein Ladekabel kaufen. Dann gehe ich in das Waldschwimmbad von Michelstadt. Ich freue mich schon, da ich seit Corona nicht mehr schwimmen war und weil es heute im Laufe des Tages immer wärmer geworden ist. Im Freibad ist von Corona fast nichts zu beobachten. Ein Gummirarmband wird verteilt, damit man besser zählen kann, wieviele Personen im Freibad sind. Ich zische fast als ich endlich im Wasser bin. Herrlich!

Später am Abend erreicht ein starkes Gewitter Michelstadt. Eine Freundin, die mit mir morgen wandern will, meldet sich bei mir. Wir verschieben wegen der Wetterlage die gemeinsame Wanderung. Ich werde dann morgen nach Lage entscheiden, ob und wie ich weiterwandern werde.

Mitten im Odenwald – Gadernheim – Lindenfels – Ostertal

In der Nacht habe ich entdeckt, dass mich 2 Dinge an Bensheim erinnern werden. Erstens ich habe den Zimmerschlüssel aus Versehen mitgenommen und zwar so einen richtig traditionellen, also keine Plastikkarte. Dafür habe ich etwas zurückgelassen und zwar zweitens das Ladegerät für mein Handy!

Ich schlafe unruhig und kann mir dadurch meine Träume merken. Zwei möchte ich teilen. Der erste Traum war mit einem lieben Freund und ehemaligem Kollegen. Wir fahren in einem Auto, er sitzt am Steuer und redet, ich sitze auf der Rückbank und höre. Auf einmal sitzt er auf dem Beifahrersitz, schaut nach hinten, wedelt mit beiden Händen und freut sich wie ein Schneekönig. „Siehst Du!“ ruft er „so gut funktioniert autonomes Fahren!“. Ich kriege einen kleinen Schreck, weil das Auto einen schwierigen Parcours voller Kurven fährt. Es passiert kein Unfall.

Ob das etwas damit zu tun hat, dass ich ohne Handy um 7 Uhr beim Wirt zum Frühstück angemeldet bin?

Der zweite Traum hat eine junge, hellhäutige, sommersprossige und rothaarige Frau im Mittelpunkt. Sie hat zusätzlich zu den vielen Sommersprossen abstrakte leichtblaue Zeichen im Gesicht. Es sieht aus wie bei indigenen Muster, z.B. den Maori nur in hellblau und nicht zusammenhängend. Ich kann nur schwer ihren Blick erfassen. Ich spreche mit ihr. Sie erzählt mir, dass sie sich schämt wegen ihrem Anblick und deswegen niemandem in die Augen sieht. Ich rede ihr gut zu und versuche mit ihr Blickkontakt aufzunehmen. Zuerst ist es schwierig, doch dann gelingt es mir. Ich muß den Atem anhalten, denn sie hat nur ein Auge in der Mitte. Die Augenfarbe ist blau.

Ich bin sogar früher als 7 Uhr wach und pünktlich beim Frühstück, das für die Umstände sehr gut und passend ist. Ich gebe den Schlüssel dieses Hauses ganz achtsam ab. Die Herausforderungen des Tages sind, wie finde ich ohne meine Kompass Pro Anwendung auf dem Handy meinen Weg ohne mich dabei großartig zu verlaufen? Wie kriege ich den Schlüssel wieder nach Bensheim ohne Postämter auf dem Weg?

Ich gehe los. Es ist noch morgendlich frisch und der Aufstieg liegt vor mir. Ich verlasse das Dorf und wandere zur höchsten Erhebung des Odenwaldes. Überall wird bereits die Heuernte vorbereitet, die Heuwender sind unterwegs und das Heu fliegt nur so durch die Luft. Ich sehe einen roten Milan (oder auch Gabelweihe) aufsteigen. Wow! Ich bin beeindruckt von diesen kunstvollen Seglern, die auch wegen ihrer Segelkünste und Vorliebe für Aas die Geier des Nordens genannt werden.

Ich komme gut voran. Ich habe inzwischen einen Schrittrhytmus beim Gehen entwickelt, so dass ich nicht außer Atem komme und mich auf jeden Schritt entspannt konzentriere. Auf einmal sehe ich ein Reh vor mir auf dem Weg. Es bemerkt mich gar nicht. Ich komme bis auf fünf Meter nah an das Tier ran. So nah war ich einem Reh in freier Wildbahn noch nie. Auf einmal entdeckt es mich, schreckt hoch und verschwindet schnell im Wald. Eine ähnliche Begegnung mit einem Reh habe ich eine halbe Stunde später noch einmal. Diesmal bin ich es der erschrickt, aber ich springe nicht in den Wald.

Zügig erreiche ich die höchste Erhebung des hessischen Odenwaldes der Neukirchener Höhe mit über 600 Metern. Hier steht auch der Kaiserturm, ein Ausflugsziel, das geschlossen hat. Es gibt auch keinen schönen Panoramablick, da der Wald den verstellt. Aber zur meiner Beruhigung ein Schild des Odenwaldclubs, der alle möglichen Wege zeigt und erklärt, unter anderem den E8. Ich bin also noch richtig.

Vom Kaiserturm aus geht es zum Ort Winterkasten immer leicht abwärts. Zuerst durch den Wald und dann durch Felder. Ich durchquere den Ort und komme dann auf einen sehr schönen Weg, der zu dem Städtchen Lindenfels führt. Ein toller Höhenweg, von dem man aus die ganze Umgebung gut sehen kann. Er wird auch von anderen Spaziergängern genutzt. Einen alten Mann werde ich nicht vergessen. Er kommt direkt auf mich zu und sagt erfreut: „Ach, Karl-Heinz!“ Ich bin erstaunt und sage ihm, wie ich wirklich heiße. Er ist enttäuscht und geht weiter.

Auf dem Weg nach Lindenfels sind auf 1000 Meter drei geologische Stationen verteilt, da hier drei ganz unterschiedliche Gesteinsarten zu sehen sind. In der Mitte ist der Bismarkturm, von dem aus ich einen tollen Blick in das Tal habe. Lindenfels ist ein hübsches aber sterbendes Städtchen. Ich versuche ein Ladegerät zu kaufen. Alle schicken mich zu den größeren Städten wie Bensheim oder sogar Darmstadt. Viele Geschäfte sind geschlossen. Ich verlasse Lindenfels. Es geht erst abwärts und dann wieder aufwärts. Der Weg ist zuerst angenehm breit und wird dann immer schmaler. Am Schluß werde ich immer wieder von Brombeerranken angegriffen. Einmal muss ich sogar auf alle viere, weil ein umgestürzter Baum den Weg versperrt. Hier scheint nicht oft jemand zu wandern.

Ich komme raus dem Wald an einer Kreuzung von Landstraßen. Es ist inzwischen bewölkt. Jetzt geht es nochmal steil hoch durch den Wald. Ich schwitze stark und muss immer wieder niesen. Ich habe Heuschnupfen. Da überall im Odenwald gerade das gute Wetter zur Heuernte genutzt wird, habe ich anscheinend meinen Teil mitbekommen.

Ich folge dem Nibelungenpfad eine zeitlang bis ich die höchste Erhebung erreicht habe. Überall ist Wald, alles ist sehr ruhig.

Am Schluß meiner heutigen Wanderung komme ich im Ostertal an. Dort finde ich einen Landgasthof. Jetzt lösen sich die zwei Dinge auf, die ich von Bensheim mitgenommen hatte. Den Schlüssel gebe ich dem Wirt. Der Wirt ist der Bruder der Wirtin aus Bensheim, mit der ich gestern noch telefonieren konnte. Der Wirt hat auch ein Ladekabel für mich. Hurra, die virtuelle Welt hat mich wieder. Deshalb gibt es heute nur ein Foto zur Auswahl, der Blick aus meinem Zimmer.

Wie ich ohne Handy den Weg gefunden habe? Am Abend hatte ich mir am Laptop den Weg angeguckt und mir charakteristische Landzeichen, wie den Kaiserturm gemerkt. Dem Odenwaldclub sei Dank, habe ich dann immer wieder eine E8 Wegmarke gefunden, wenn ich anfing unsicher zu werden. Ich habe mich kein einziges Mal verlaufen!

In dem Landgasthof kriege ich am Abend ein Zimmer und etwas zu essen. Es ist überraschend voll. Heute ist Schnitzeljagd. 15 verschiedene Arten der Schitzelzubereitung werden angeboten, sonst gibt es nichts. Kein Gasthof für Vegetarier. Es sind nur Einheimische da. Sie reden alle einen Dialekt, den ich kaum verstehe. Sie sehen anders aus und haben andere Kleidung an als ich. Ich fühle mich mittendrin seltsam alleine und exotisch.

Im Odenwald: Bensheim – Gadernheim

Ich war so müde von gestern, dass ich glatt verschlafen habe. Später als geplant breche ich auf. Auerbach ist ein hübsches altes und gut gepflegtes Städtchen. Alles ist entschleunigt. Sogar die Verkehrspolizei, die ich dabei beobachten durfte, wie sie zu zweit in einer Spielstraße eine Radarfalle aufgebaut haben und dann in aller Ruhe warteten. Nur Autos kamen nicht. Oberhalb von Auerbach fängt das sogenannte Fürstenlager an, ein großer Park mit vielen historischen Gebäuden. Hier starten eine Reihe von Wandertouren alle mit einem Blick auf das Rheintal. In der Ferne kann ich heute auch die Pfalz sehen, gut erkennbar an den Windrädern. Windräder scheint es in diesem Teil von Hessen nicht zu geben. Die Pfalz war gespickt damit. Das Wetter ist sonnig, aber nicht so warm wie gestern, weil im Odenwald ein schöner Wind bläst.

Ich laufe durch das Fürstenlager und nehme mir vor, hier mal mit meinen Kindern einen Tagesausflug zu machen. Die werden sich freuen! Besonders mein Jüngster … Alles ist sehr gut organisiert. Sogar ein erstes Hilfeset steht hier zur Verfügung (siehe Beitragsbild). Vielleicht komme hier ja gerne Senioren und lustwandeln in den schönen Anlagen. Ich lerne eine serbische Sonderpädagogin mit ihrem Schützling kennen. Sie bietet mir ein Zimmer an, falls ich auf meiner Reise durch Serbien kommen sollte. Ihre Telefonnummer habe ich auch.

Es geht durch den Wald auf die Ludwigshöhe. Von dort aus in Richtung Norden. Auf dem Weg treffe ich auf ein Jerusalem Denkmal. Es sind polierte Steinplatten die halbkreisförmig aufgestellt sind. Eine Tafel weist darauf hin, was das für ein Ort ist und dass Jerusalem 3000 km entfernt ist. Ob das stimmt? Ich wandere weiter.

Immer wieder kommen Fahrradfahrer. Entweder als einzelnes Mensch-Mountainbike-Wesen oder als Paar. Mir fällt auf, dass die Paare meistens älter sind und E-Bikes fahren. Und das ganz schön flott. Dabei ist folgende Variante beliebt: er fährt mit Muskelkraft und sie mit E-Batterie. So haben beide ein Gemeinschaftserlebnis, ohne dass sich ein Partner bis zur Erschöpfung verausgaben muss um mitzuhalten.

Im Odenwald gibt es sehr viele unterschiedliche Wanderwege. Auch verschiedene Fernwanderwege. Hier treffen sich E8 und E1. Ich bewege mich Richtung Tal und komme an Wiesen, wo gerade geheut wird, und an einem Steinbruch vorbei. Es ist alles sehr idyllisch. Im Tal liegt der Ort Reichenbach.

Es ist Mittagspause und ich suche nach einer Möglichkeit etwas zu essen. Corona scheint seine Folgen hier besonders in der Gastronomie zu haben. Die Gasthäuser sind geschlossen oder bieten einen Bestelldienst an. Leider nicht zur Mittagszeit. Doch ich habe Glück, Doras Café hat offen. Dora und ihr deutscher Mann sind gerade dabei einen großen neuen Apparat anzuschließen unter der Empfehlung von Einbahnverkehr, so dass die Ansteckungsgefahr geringer wird. Beide müssen darüber lachen. Hier kriege ich etwas zu trinken und selbstgemachte Kuchen. Dora und ihr Mann unterhalten sich mit mir. Dora kommt ursprünglich aus Polen und lobt das deutsche Gesundheitswesen sehr. Sie hat ihre polnische Mutter sogar nach Deutschland geholt, so dass sie medizinisch besser versorgt wurde. Die Mutter ist inzwischen verstorben. Ob das auch etwas mit dem deutschen Gesundheitssystem zu hatte, habe ich mich nicht getraut zu fragen. Doras Mann hat mir dann noch einen Tipp gegeben. Ich soll nach einem Gepäckservice in meiner nächsten Unterkunft fragen. Das Tragen des Rucksackes könnte meine Wanderlust negativ beeinflussen. Womit der gute Mann natürlich recht hat. Ich bin ja kein Muli.

Frisch gestärkt geht es weiter. Nach Reichenbach geht es erstmal wieder hoch. Der stärkste Anstieg an diesem Tag. Natürlich in der Mittagshitze. Aber ich habe Glück, entweder Schatten durch Bäume oder ein frischer Wind, wenn ich über die Wiesen und Felder wandere. So macht Wandern Spaß!

Unvermittelt komme ich an einer 17 Meter hohen Felsformation aus widerstandsfähigem Odenwald-Quarzit vorbei, ringsum sind hohe Bäume. Der Felsen ist das Ziel vieler Kletterfreunde und wurde vom Deutschen Alpenverein als Kletterfelsen anerkannt. Ich verzichte darauf, ihn auszuprobieren und denke an meine zwei Abstürze als ich früher klettern gewesen war.

Nach dem Wald kommen Felder und ich wandere durch Raidelbach nach Gadernheim. Ich finde hier Quartier. Der Wirt kann mir leider nichts zu essen anbieten. Seine Frau und er sind gerade heute aus Ungarn wiedergekommen. Beide waren müde und ich war froh, dass ich wenigstens ein Zimmer bekommen habe. Am Abend auf der Suche nach etwas zu essen, musste ich feststellen, dass auch die anderen Gasthäuser kein warmes Essen mehr anbieten. Ich vermute Corona auch hier als Ursache. Corona ist meiner Meinung nach, nicht – wie anfänglich befürchtet eine Versorgungskrise (Nahrung, Hygienartikel), sondern eine Freizeitkrise. Also eine Krise der organisierten und kommerzialisierten Freizeit. Und wie in jeder Krise werden jetzt Überkapazitäten abgebaut. Das scheint auch auf den Odenwald als Naherholungsgebiet zu zutreffen. Ich finde dann doch noch etwas, eine Dönerbude im Familienbetrieb. Wird das die Zukunft der Gastronomie im Odenwald sein? Heute ist mir das egal, Hauptsache es schmeckt mir.